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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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weniger dieselbe Ruhe wie im Winter und Frühling. Von der Landstraße her hörte man nun öfter Wagengeratter, aber das war alles.
    Am Morgen schnitt Adrienne unter Aufsicht ihres Vaters und ihrer Schwester Geranien ab. Diese Zerstreuung hatten sie ihr gestattet, obwohl sie noch immer nicht willens war, auf ihre Fragen zu antworten, doch Germaine fühlte sich zu schwach, um regelmäßig einen Rundgang durch den Garten zu machen, und Monsieur Mesurat empfand es als seiner unwürdig, Blumen zu pflücken. Als sie sich gerade über die Rabatten beugte, hörte sie das Geratter eines Wagens und hob den Kopf. Ihr Vater hatte seine Zeitung sinken lassen und blickte aufmerksam in die Höhe.
    »Was ist los?« fragte Germaine.
    »Hörst du nichts?« sagte Adrienne.
    Sie ging bis ans Gartentor und blieb dort, das Gesicht an die Gitterstäbe gepreßt, regungslos stehen. Auf der Straße wirbelte ein warmer Wind mit kaum vernehmbarem Säuseln den Staub hoch. Das Rattern der Wagenräder kam näher.
    »Jetzt höre ich's auch«, sagte Germaine.
    »Das kommt von der Landstraße«, fügte ihr Vater hinzu.
    Dieser kurze Dialog, fast stets der gleiche, spielte sich mehrmals am Tag ab. Ein Augenblick verstrich. Plötzlich umklammerte das junge Mädchen die Gitterstäbe mit aller Kraft. Der Wagen fuhr die Rue Carnot herunter, und schon bald hörte man, mitten im Hufschlag des Pferdes auf den Pflastersteinen, das Quietschen der Bremse, die der Kutscher anzog, denn die Straße war ziemlich abschüssig.
    »Madame Legras«, dachte Adrienne, und ihr Herz begann heftig zu pochen.
    Endlich würde sie diese Frau sehen, von der sie nicht mehr wußte, ob sie sie nun haßte oder sich im Gegenteil ihr Eintreffen wünschte. Monsieur Mesurat war aufgestanden.
    »Nicht möglich!« sagte er überrascht.
    Der Wagen bog in die Rue Thiers ein. Es war nicht Madame Legras, und Adrienne konnte einen Aufschrei der Enttäuschung nicht unterdrücken, ihre Neugier steigerte sich jedoch, als der Kutscher die Zügel anzog und sein Pferd direkt vor der Haustür der Villa Louise zum Stehen brachte. Eine kleine Frau stieg aus dem Wagen. Sie war sehr klein und trug ärmliche schwarze Kleider, die ihren Stand verrieten: ganz offensichtlich war sie ein Hausmädchen. Sie hatte das schüchterne und ernste Gesicht guter Dienstboten und wollte den schwarzen Holzkoffer, den der Kutscher neben sich gestellt hatte, unbedingt eigenhändig abladen. Er aber sprang von seinem Sitz herunter und lud sich den Koffer auf die Schultern. Sie holte einen Schlüssel aus ihrem Beutel, öffnete das Tor und betrat, vom Kutscher gefolgt, den Garten.
    Diese Szene wurde von den Bewohnern der Villa des Charmes mit einer Art Leidenschaft und Neugier beobachtet. Germaine hatte sich gesetzt, und Monsieur Mesurat starrte, immer noch stehend und mit leicht geöffnetem Mund, auf den Garten gegenüber, als hätte sich dort plötzlich ein Abgrund aufgetan.
    Adrienne spürte, wie ihr Herz wild in der Brust klopfte. Alles, was nach etwas Neuem aussah, erregte sie so sehr, daß es ihr Qualen bereitete. Wirre Gedanken schössen ihr durch den Kopf. Sie hatte sich so fest an die Gitterstäbe geklammert, daß ihr die Hände weh taten. Ihr Blick umfing nur einen ganz kleinen Teil der Gasse, doch in einem ungestümen Ausbruch ihrer Phantasie sah sie, wie diese Gasse aufs Land hinausführte und sich dort zwischen den Feldern mit den Landstraßen verband. Und plötzlich faßte sie einen Plan, der sie mit Freude und Angst erfüllte: das Gartentor öffnen, auf die Straße entwischen, geradeaus laufen bis zu den Feldern, bis hinaus in die Wälder, um sich frei zu fühlen, und sei es auch nur eine Stunde lang… Sie hörte ihren Vater und Germaine miteinander reden und erriet, daß sie gerade nicht überwacht wurde. Sie streckte den rechten Arm aus; ihre Handfläche legte sich auf die Klinke des Gartentors und drückte sie vorsichtig nieder. Eine Sekunde verging. Sie biß sich auf die Lippen und zog die Klinke zu sich heran; ein Widerstand war zu spüren. Da ergriff sie die Klinke mit der ganzen Hand und riß heftig an ihr, ohne sich um den Lärm zu kümmern, den sie womöglich verursachte. Aber das Gartentor war abgeschlossen.
    Eine lange Woche verstrich, ohne große Veränderungen in Adriennes Leben zu bringen. Jetzt standen die Fenster der Villa Louise den ganzen Tag offen, und man sah das alte Dienstmädchen, mit einem Flederwisch oder Besen in der Hand, von einem Raum in den anderen gehen. Dann kam ein Gärtner, um

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