Adrienne Mesurat
hatte, als alles um sie herum den Stempel eines durch Gebräuche geregelten Lebens trug, in dem das Unvorhergesehene keinen Platz hatte. Die Erinnerung an Maurecourt hatte sich sozusagen in ihr eingenistet und verließ sie niemals. Es war, als verfolge der Blick, den der Doktor ihr zugeworfen hatte, sie überallhin und zwinge sie, nur an ihn zu denken. Nichts gleicht einer behexten Frau mehr als eine verliebte Frau. Der Wille zählt nicht mehr, selbst das Denken ist ihr geraubt. Sie ist nichts ohne ihn, er allein vermag sie zum Handeln zu bringen, und wenn sie von ihm getrennt ist, verfällt sie in eine Art geistige Erstarrung und behält vom Leben einzig das Bewußtsein ihrer Qualen und ihrer Einsamkeit.
Es liegt etwas Entsetzliches in diesen Provinzexistenzen, in denen sich nichts zu verändern scheint, alles dasselbe Aussehen bewahrt, wie tief die Umwälzungen in der Seele auch sein mögen. Nichts ist äußerlich wahrzunehmen von der Angst, der Hoffnung und der Liebe, und das Herz schlägt geheimnisvoll weiter bis zum Tod, ohne daß man es einmal gewagt hätte, die Geranien an einem Freitag anstatt samstags zu pflücken oder eher um elf Uhr morgens durch die Stadt zu spazieren als nachmittags urn fünf.
VIII
Entgegen allen Voraussagen von Monsieur Mesurat zog Madame Legras erst zehn Tage nach dem Dienstmädchen ein. Erstaunlicherweise wurde ihre Ankunft nur von Adrienne beobachtet. Seit kurzem nämlich hatte Monsieur Mesurat die Überwachung seiner jüngeren Tochter ein wenig gelockert und seine Vormittagsspaziergänge zum Bahnhof wiederaufgenommen. Genau in dieser Zeit war Madame Legras eingetroffen. Und Germaine war, besorgt, weil der Himmel sich bewölkte und die Sonne fast nicht mehr schien, in ihrem Bett geblieben, wie sie es immer tat, wenn auch nur im entferntesten schlechteres Wetter drohte. Vergeblich rief sie zu ihrer Schwester hinunter, was dieses Wagengeratter zu bedeuten habe, Adrienne rächte sich für das Leid, das die alte Jungfer ihr zugefügt hatte, indem sie nicht mehr mit ihr sprach.
Sie hatte sich im Eßzimmer auf das Fensterbrett gestützt und schaute hinaus. Noch vor einem Monat wäre sie außer sich gewesen vor Aufregung, wahrscheinlich hätte sie sich hinter dem Vorhang versteckt. Damals gestand sie sich ein, daß sie diese Frau haßte, weil sie neidisch auf sie war, doch auf unerklärliche Weise empfand sie hin und wieder auch so etwas wie Sympathie und Achtung. Vielleicht hing es damit zusammen, daß Madame Legras eine Villa besaß, die dem weißen Haus unmittelbar gegenüberlag. War es nicht ein Privileg, die Nachbarin des Doktors zu sein und nach Herzenslust beobachten zu können, was bei ihm geschah? Und dem jungen Mädchen wollte es scheinen, als falle durch diese besondere Situation eine Art Glanz auch auf Madame Legras.
Seit ein oder zwei Wochen waren diese Eindrücke jedoch verschwommener geworden. Beinahe hätte man meinen können, sie wären ausgelöscht, so gleichmütig wirkte das junge Mädchen, als sie Madame Legras aus dem Wagen steigen sah, und diese Ruhe überraschte sie selbst. »Das ist sie, das ist Madame Legras«, sagte sie sich, wie um ihre eingeschlafene Neugier anzustacheln. Und in einer naheliegenden Gedankenverbindung fügte sie hinzu: »Ich liebe Maurecourt also nicht mehr?«
Madame Legras, stämmig und von kleinem Wuchs, war ganz in Schwarz gekleidet, jedoch mit einem Aufwand an Seide und Spitzen, der eine gehörige Portion Eitelkeit verriet. Ein breitkrempiger, mit Pleureusen geschmückter Hut verdeckte ihr Gesicht, aber ihr kräftiger Hals und die breiten Schultern sagten alles über ihr Alter. Leichtfüßig sprang sie aus dem Wagen und rief mit schriller Stimme nach ihrem Dienstmädchen. Ihre Bewegungen waren lebhaft; mit dem Mienenspiel einer Person, die nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht, drehte sie sich affektiert im Kreis, und da niemand antwortete, begann sie, dem Kutscher Befehle zu erteilen, bis dieser schließlich die Koffer nahm. Beide traten in den Garten der Villa, gefolgt von einem gelblichen Dackel, der hinter ihnen hertrottete. Adrienne hörte ihre Schritte auf dem Kies und dann die Stimme von Madame Legras, die den Kutscher fragte, wie das Wetter in La Tour-1'Evêque gewesen sei. Dann sah sie alle drei die Außentreppe hinaufgehen und in der Villa verschwinden.
Ein Augenblick verstrich. Das Pferd schüttelte den Kopf, um die Fliegen zu vertreiben, die seine Nüstern umschwirrten. Es trug einen Strohhut, aus dem oben seine
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