Adrienne Mesurat
aus dem Zimmer zu gehen, und der Verwunderung, Germaine in diesem Tonfall mit ihr sprechen zu hören.
»Setz dich endlich«, wiederholte Germaine mit flehender Stimme. »Siehst du denn nicht, daß es mir nicht gut geht?«
Es war das erste Mal, daß ihr ein solches Geständnis über die Lippen kam. Adrienne setzte sich mitten im Zimmer auf einen Stuhl.
»Ich will nicht allein sein«, fuhr Germaine fort.
»Warum denn? Wovor hast du Angst?«
Germaine blickte ihre Schwester erstaunt an:
»Ich habe keine Angst«, erwiderte sie schließlich. »Was willst du damit sagen?«
»Ach, was weiß ich«, meinte Adrienne ungeduldig abwinkend. »Ich habe doch gar nicht behauptet, daß du Angst hast.«
Sie schwiegen. Adrienne hatte die Arme über ihrer Schürze verschränkt und saß reglos da. Aus Ekel vor der unreinen Luft, die im Raum hing, bemühte sie sich, so flach wie möglich zu atmen.
»Adrienne«, fragte Germaine nach einer längeren Weile, »du glaubst nicht, daß ich krank bin, stimmt's?«
»Nein.«
»Du hast mir aber keine Antwort gegeben, als ich gesagt habe, daß es mir nicht gut geht.«
»Was hätte ich denn sagen sollen?«
»Du machst dir keine Sorgen um mich?«
»Nein«, antwortete Adrienne.
Ihr wurde übel. Sie spürte, wie etwas Schauriges langsam von ihr Besitz ergriff, als würden sich auf geheimnisvolle Weise Germaines düstere Gedanken auf sie übertragen und sie vergiften. Unter dem Blick, den die Schwester ihr zuwarf, wandte sie den Kopf ab.
»Hör zu«, sagte diese plötzlich. »Ich will dir etwas sagen.«
Sie hielt inné, wie um sich zu sammeln, und schloß die Augen. Das Gesicht auf dem weißen Kissen schien von einem inneren Feuer aufgezehrt zu werden. Ihr schon leicht ergrautes Haar fiel in einem kurzen, von einer blauen Schleife zusammengehaltenen Zopf in den Nacken. Sie glich so wenig sich selbst, daß Adrienne plötzlich Furcht beschlich und sie nahe daran war aufzustehen, doch Germaine schlug die Augen wieder auf und blickte sie an.
»Hör zu, Adrienne«, sagte sie leise, »ich glaube, ich werde sterben.«
Adrienne sprang auf und machte einen Schritt auf ihre Schwester zu. Die Verblüffung hinderte sie zunächst am Sprechen.
»Germaine, du bist verrückt«, sagte sie schließlich.
Und plötzlich fühlte sie Zorn in sich aufsteigen gegen diese Frau, die ihr angst machte.
»Ja, verrückt«, wiederholte sie. »Du hast nur ein bißchen Fieber.«
Germaine schüttelte den Kopf.
»Ich bin schon seit zwölf Jahren krank«, sagte sie.
»Sei still«, rief Adrienne. »Das wüßten wir, wenn es so wäre.«
»Du weißt es ganz genau«, fuhr Germaine in ruhigem Ton fort. »Du traust dich nie in meine Nähe. Und dein Gesicht, deine Miene, wenn ich auf dich zukomme, glaubst du, ich sehe das nicht? Sogar jetzt…«
Adrienne senkte den Blick. Der Ekel, den ihre Züge verrieten, war ihr tatsächlich bewußt. Einige Sekunde verstrichen, ohne daß ein Wort fiel.
»Ich bin nicht ansteckend«, sagte Germaine.
»Warum läßt du keinen Arzt kommen?« fragte Adrienne und wurde sogleich rot.
In Germaines Augen blitzte ein Glanz auf, und sie fragte:
»Welchen Arzt?«
»Irgendeinen«, stotterte Adrienne. »Es gibt ja genug.«
»Den Doktor aus der Rue Carnot zum Beispiel.«
»Ihn oder einen anderen.«
»Aber besser ihn als einen anderen«, sagte die alte Jungfer lauernd.
»Was willst du damit sagen?« fragte Adrienne, die all ihren Groll gegen die Schwester wiedererwachen fühlte. »Warum sagst du das?«
Germaine hob wie kurz zuvor die Hand und ließ sie auf das Bett zurückfallen. Ihre Lippen wurden schmal.
»Ich habe es erraten«, hauchte sie.
Adrienne betrachtete sie, ohne zu antworten. Mühsam versuchte sie, Germaines Gedanken von ihren Augen abzulesen, aber diese stieß einen tiefen Seufzer aus und wandte den Kopf zur Seite. Adriennes Herz krampfte sich zusammen. Zum ersten Mal schämte sie sich ihrer Liebe; war sie nicht lächerlich? Ihr graute vor dieser Kranken, die nichts Besseres zu tun hatte, als anderen nachzuspionieren; und ihr graute vor sich selbst, vor dieser Leidenschaft:, von der sie verzehrt wurde und die sie verbarg wie eine Krankheit.
»Es ist nicht wahr«, sagte sie endlich.
»Doch«, entgegnete Germaine. »Du hast dir die Arme mit Absicht zerschnitten.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Adrienne mit dumpfer Stimme.
»Ich habe Augen im Kopf.«
»Das geht dich aber nichts an«, rief das junge Mädchen und stampfte mit dem Fuß auf. »Du machst mich nur
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