Adrienne Mesurat
ständig schlackernden Ohren hervorschauten. Sein Fell glänzte von Schweiß. Plötzlich klammerte sich das junge Mädchen an die Brüstung und lehnte sich hinaus. In einer Art von Erleuchtung riß sie die Augen weit auf. Dieser Wagen, den sie seit einigen Sekunden betrachtete, war ihr bekannt. Diese gelbgestrichenen Räder und diese Sitzbank mit ihrem ausgebleichten blauen Bezug hatte sie schon einmal gesehen. Und mit einem Schlag versetzte ihr Gedächtnis sie um mehr als einen Monat zurück; sie stand am Straßenrand, die Arme voller Wiesenköniginnen. Ein Wagen fuhr ganz nah an ihr vorüber; in diesem Wagen saß ein Mann und las, dann schaute er auf und warf ihr einen tiefen und zugleich zerstreuten Blick zu: es war Maurecourt. Die Szene wiederholte sich in ihrem Geist mit einer Klarheit, einer Fülle von Details, die sie bis ins Innerste aufwühlten. Ihre Knie gaben nach. Der herbe Duft der Feldblumen stieg ihr in die Nase, so als hielte sie den Strauß noch in den Armen, und sie fragte sich, ob sie nicht verrückt wurde. Sie setzte sich auf das Fensterbrett, konnte ihre Augen aber nicht von diesem Fahrzeug abwenden, das sie auf so quälende und beinahe ironische Weise an den geheimnisvollen Augenblick erinnerte, in dem sie gefühlt hatte, daß ihr Leben sich verändern werde. Welches Glück hatte sie sich erhofft? Sie wagte nicht, jetzt daran zu denken. Diese Erinnerungen waren zart und grausam zugleich, zerrissen ihr das Herz, weil sie von Freude sprachen, und sie wunderte sich, daß sie unter dem Ansturm eines so übermäßigen und wilden Schmerzes nicht ohnmächtig wurde. Nicht einmal weinen konnte sie; sie saß nur reglos da, mit leicht geöffnetem Mund, und hielt den Atem an, als wolle sie den Lauf der Gedanken, die sie heimsuchten, nicht unterbrechen.
Wenige Minuten später kam der Kutscher wieder heraus, sprang auf den Bock und schwang die Peitsche knallend über dem Kopf des Pferdes. Der Wagen setzte sich in Bewegung. In drei Sekunden war er verschwunden, und der böse Traum, dem das junge Mädchen nachhing, verlor seine halluzinatorische Kraft. Adrienne stand auf. Unwillkürlich machte sie ein paar Schritte durch den Raum. Sie hatte den Eindruck, ihre Füße trügen sie, wohin es ihnen gefiel, und sie selbst habe keine Gewalt mehr über sie. Als sie am Tisch vorbeiging, ließ sie sich . auf einen Stuhl fallen und sackte plötzlich zusammen. Ihre Stirn sank auf die angewinkelten Arme. Sie schluchzte.
Nach einer Weile hörte sie Germaine rufen. Ihre erste Regung war, nicht zu antworten, doch in der Stimme ihrer Schwester klang etwas Ängstliches mit, das sie überraschte. Sie trocknete sich die Augen, unentschlossen. Wieder rief Germaine nach ihr. Diesmal stand sie auf und ging ins Treppenhaus.
»Was willst du?« schrie sie.
Dann stieg sie, ohne eine Antwort abzuwarten, bis zum Zimmer ihrer Schwester hinauf und trat ein. Sie verzog das Gesicht, denn es roch stark nach Eukalyptus, und das Fenster war geschlossen; in einer Untertasse am Kopfende des Bettes lag eine fast heruntergebrannte Zigarette aus Heilkräutern.
»Was willst du?« wiederholte Adrienne, die im Türrahmen stehengeblieben war.
Germaine saß, die Schultern von einem Wollschal umhüllt, im Bett und blickte ihrer Schwester mit unruhiger Miene entgegen. Sie wirkte magerer als sonst, aber ihre Wangen waren gerötet.
»Mach die Tür zu«, sagte sie.
Adrienne zögerte. Es war ihr zutiefst zuwider, sich mit der Kranken in diesem Zimmer einzuschließen. Endlich schob sie die Tür hinter sich zu und ging mit ein paar raschen Schritten ans Fenster.
»Nicht aufmachen«, rief Germaine erschrocken.
Adrienne drehte sich um.
»Was hast du denn?« fragte sie ungehalten.
Germaine hob ihre knochige Hand und ließ sie auf die Decke zurückfallen, als wäre sie ihr zu schwer. Auf ihren Zügen lag eine entsetzliche Müdigkeit.
»Dieses Fieber frißt mich auf«, sagte sie.
»Du hast Fieber?«
»Es will einfach nicht sinken«, erklärte Germaine. »Meistens kommt es am Abend und geht in der Früh zurück. Sicher schlägt das Wetter um.«
»Heute ist es nicht kalt.«
Die Kranke schüttelte den Kopf und schloß die Augen. Eine Weile herrschte Schweigen.
»Brauchst du irgendwas?« nahm Adrienne das Gespräch wieder auf. »Willst du Aspirin?«
»Nein«, sagte Germaine. »Ich will nichts.«
Dann wandte sie den Kopf zu ihrer Schwester und fügte hinzu:
»Setz dich.«
Adrienne rührte sich nicht. Sie war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch,
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