Adrienne Mesurat
furchtbar unglücklich.«
Bei diesen Worten neigte Germaine ein wenig den Kopf, wie um besser zu hören.
»Wieso denn?« fragte sie.
»Wieso?« wiederholte Adrienne, die sich nicht länger beherrschen konnte. »Ich darf nicht mehr hinausgehen, wann es mir paßt, ich muß am Abend mit euch Karten spielen, am Nachmittag mit Papa durch die Stadt spazieren, ich bin nicht mehr frei, ich kann nicht einmal mehr am Fenster stehen!«
Sie verstummte, als sie den Ausdruck sah, der sich über das Gesicht ihrer Schwester breitete. Ein Lächeln ließ ihre Wangen hohl erscheinen. Sie lauschte mit leicht geöffnetem Mund und konnte nur schlecht die Freude verbergen, die immer stärker in ihren Augen aufleuchtete. Adrienne betrachtete sie eine Weile, in ihrem Inneren herrschte so große Verwirrung, daß sie ein paar Schritte .in Richtung Tür zurückwich und sich auf das Fußende des Bettes stützte. Innerhalb einer einzigen Sekunde glaubte sie zwanzig verschiedene Dinge. Und plötzlich, beim Anblick dieses Lächelns, das noch immer auf dem ausgemergelten Gesicht ihrer Schwester lag, ahnte sie die Wahrheit.
»Ja! Du freust dich«, schrie sie.
Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Deshalb zuckte sie nur wütend die Schultern, ging rasch hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Auf dem Treppenabsatz horchte sie; kein Laut drang aus dem Zimmer. Mit einer zornigen Geste steckte sie die Fäuste in die Taschen ihrer Schürze; sie atmete schwer. Auf einmal hob sie mit herausfordernder Miene den Kopf und flüsterte:
»So stirb doch!«
Sie hörte den Dackel von Madame Legras bellen, dann öffnete jemand das Gartentor der Villa des Charmes. Es war ihr Vater, der von seinem Spaziergang zurückkam. Sie lief hinunter und traf Monsieur Mesurat im Salon. In ihrer Aufregung begann sie, mit gesenktem Kopf und in den Schürzentaschen vergrabenen Händen im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Was hast du?« fragte der Alte.
Sie blieb wie angewurzelt stehen.
»Ich? Nichts.«
Weshalb war sie überhaupt in den Salon gekommen? Sie wollte zur Tür gehen, doch ihr Vater hielt sie zurück.
»Wie siehst du denn aus? Was hast du da oben gemacht?«
Sie starrte ihn an und schien ihn doch nicht zu sehen.
»Oben?«
»Natürlich«, rief Monsieur Mesurat. »Hör auf, alle meine Fragen zu wiederholen. Ich will wissen, was du da oben gemacht hast.«
Adrienne schüttelte den Kopf.
»Nichts.«
»Wie!« schrie der Alte, den diese Antwort zur Weißglut brachte. »Du stehst hier mit hochroten Wangen, aufgelöstem Haar…«
Sie warf einen Blick in den Spiegel und sah, daß ihr tatsächlich Strähnen in die Stirn hingen. Etwas Verstörtes in ihrem Gesicht überraschte sie. Sie zuckte zurück und stützte sich auf die Sofalehne.
»Sie wird sterben«, sagte sie dann hastig.
Monsieur Mesurat reagierte nicht.
»Wer?« fragte er schließlich.
Er stand mitten im Zimmer, und der Hut, den er noch nicht abgenommen hatte, verdunkelte seine Augen. Adrienne seufzte laut.
»Germaine«, antwortete sie mit tonloser Stimme.
»Germaine!« rief Monsieur Mesurat außer sich. »Bist du verrückt? Sie ist nicht krank.«
»Doch, sie ist krank.«
Während Adrienne diese Worte aussprach, wurde sie totenblaß. Der Alte schlug mit der Faust auf eine Stuhllehne.
»Wirst du wohl den Mund halten!« befahl er. »Wenn sie krank wäre, hätte sie es gesagt.«
»Sie hat es mir gesagt.«
»Das ist nicht wahr. Es geht ihr bestens.«
Adrienne blickte ihren Vater wortlos an. Er war feuerrot vor Zorn.
»Verschwinde!« schrie er plötzlich.
Sie gehorchte, verließ den Salon, schloß die Tür hinter sich wie in einem Traum. Auf der anderen Straßenseite erfüllte der Dackel von Madame Legras den Garten mit seinem Gebell.
IX
Das Wetter schlug um, und es regnete die ganze Woche in Strömen. Weder Adrienne noch ihr Vater konnten das Haus verlassen. Und was Germaine anging, so wäre dergleichen selbst bei ganz milden Temperaturen nicht in Frage gekommen, aber im Gegensatz zu anderen Tagen hütete sie jetzt ihr Zimmer und erschien zu keiner Mahlzeit. Anfangs gab Monsieur Mesurat vor, diese Abwesenheit nicht zu bemerken. Er haßte jede Veränderung in den Gewohnheiten des Hauses, fürchtete jedoch, er könnte, wenn er mit Adrienne darüber sprach, einer Sache Bedeutung beimessen, die zu übersehen er entschlossen war. »Lieber nichts sagen«, dachte er, »und alles wird sich wieder einrenken.«
Seine schlechte Laune verriet allerdings,
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