Adrienne Mesurat
Zimmer treten. Die Kranke bewegte sich mit ersichtlicher Mühe und hielt die Augen geschlossen, wie jemand, dessen Kopf schmerzt, doch Adrienne war überrascht, wie wenig verändert sie wirkte. Sie hatte ein noch abgezehrteres Gesicht erwartet, die Kraftlosigkeit einer Sterbenden, und obwohl Germaine erschreckend mager war und sich auf einen Stock stützte, besaß ihre Haut dennoch eine lebhafte Farbe, die für einen Augenblick Gesundheit vortäuschen konnte.
»Siehst du«, rief Monsieur Mesurat mit triumphierender Miene. »Ich hatte ja gesagt, daß du herunterkommst. Alles nur eine Frage des guten Willens.«
Rasch strich er sich mit dem Daumen über den Bart und schaute, einen zustimmenden Blick suchend, zu Adrienne, aber das junge Mädchen tat, als habe es nichts bemerkt.
»Los, mach schon«, brummte er, über diese Haltung verärgert, »gieß deiner Schwester Kaffee ein. Klingle, damit sie Brot bekommt.«
Und unter dem Tisch versetzte er dem Stuhl, den Germaine nicht wegzuziehen vermochte, einen kräftigen Tritt.
»Setz dich, Germaine«, sagte er in gutmütigem Ton, glücklich, sie wieder an ihrem gewohnten Platz vor sich zu sehen.
Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Mit gesenktem Kopf, die Unterarme auf den Tisch gelegt, saß sie ganz schief da, keuchte ein wenig und wirkte erschöpft. Ohne ein Wort zu sagen, hatte
Adrienne eine Tasse mit schwarzem Kaffee gefüllt und sie ihrer Schwester hingestellt. Sie betrachtete sie aufmerksam, und es gelang ihr nicht, jene lüsterne und grausame Neugier zu verbergen, die man in den Augen von Kindern aufblitzen sieht, wenn sie miterleben, wie ein Kamerad schikaniert wird.
»Trink«, befahl Monsieur Mesurat.
Germaine beugte den Kopf nach vorn und führte die Tasse an ihre Lippen, stellte sie jedoch sogleich wieder zurück. Sie fröstelte.
»Schließt das Fenster«, sagte sie.
In diesem Augenblick kam das Hausmädchen mit einem Teller Brot herein. Monsieur Mesurat zuckte die Schultern.
»Désirée, schließen Sie das Fenster«, sagte er verstimmt.
Désirée stellte das Brot auf den Tisch, schloß das Fenster und ging. Eine Weile herrschte Schweigen.
»Los, mach schon«, sagte der Alte schließlich, als er sah, daß Germaine sich nicht rührte. »Trink deinen Kaffee.«
Germaine hob den Kopf; ihre glänzenden Augen mit den geröteten Lidern richteten sich auf Adrienne.
»Aspirin«, bat sie.
»Was?« rief Monsieur Mesurat. Man hätte meinen können, er habe auf etwas Ähnliches gewartet. »Wozu denn Aspirin?«
Germaine blickte ihren Vater an, ihr Mund war halboffen, und der leicht zitternde Kopf verriet ihre heftige Erregung.
»Gegen mein Fieber«, sagte sie.
»Dein Fieber!« rief der Alte. »Schau doch im Salon in den Spiegel. Du hast nicht mehr Fieber als ich. Ganz im Gegenteil, blendend siehst du aus.«
Und er redete weiter, mitgerissen vom Klang seiner Stimme, die den ganzen Raum erfüllte:
»Ich weiß, was Fieber heißt. Ich habe nämlich Fieber gehabt, im Jahr sechsundachtzig. Man steht nicht auf, wenn man Fieber hat, man liegt flach im Bett, vierzehn Tage lang, ohne sich bewegen zu können.«
Germaine machte Anstalten, etwas zu sagen.
»Sei still«, befahl er. »Zunächst ist hier gar nicht das Klima dafür. Im Departement Seine-et-Oise bekommt man kein Fieber, hörst du, und du bist nicht krank, und hier im Haus war noch nie jemand krank.«
Seine Stimme wurde immer lauter. Er schrie, und zugleich unterstrich er seine Worte durch Faustschläge auf den Tisch:
»Also Schluß jetzt, Schluß, Schluß, Schluß! Hört ihr? Ich will meinen Frieden. Ich will in Ruhe gelassen werden. Hörst du, Adrienne? Das gilt auch für dich, was ich hier sage. Die erste, die mir wieder etwas von Krankheit erzählt, soll mich kennenlernen.«
Er stand auf und schleuderte seine Serviette mitten auf den Tisch, zwischen Teller und Tassen. Seine Töchter blickten ihn an, wagten jedoch nicht, ihm zu antworten. Er schnaubte vor Zorn, schien die Wirkung seiner Worte aber zu genießen.
»Verstanden?« schrie er, nachdem eine Sekunde lang Schweigen geherrscht hatte.
Dann zuckte er mit wütenden Gebärden vier- oder fünfmal die Schultern, vergrub die Fäuste in seinen Rocktaschen und stampfte in den Salon hinüber. Adrienne und Germaine hörten, wie er sich schwerfällig und vor Überdruß seufzend in einen Polstersessel sinken ließ.
Den Schrullen ihres Vaters nachgebend, der partout wollte, daß alles wie gewöhnlich ablief, lag Germaine einige Minuten später auf dem
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