Adrienne Mesurat
daß er beunruhigt war. Er mochte sich noch so oft sagen, Adrienne habe gelogen und Germaine sei nicht kränker als er selbst, irgend etwas warnte ihn, das Gegenteil könne der Fall sein. Aber es ärgerte ihn, daß er solchen Albernheiten Glauben schenkte, und als wolle er sich ermutigen, nicht daran zu glauben, fragte er Adrienne jeden Tag, wenn sie sich zu Tisch setzten, warum Germaine auf sich warten ließ.
»Du weißt es doch«, sagte das junge Mädchen dann verdrossen.
»Nein, ich weiß es nicht«, antwortete Monsieur Mesurat wütend. Und wenn Adrienne ihm noch einmal sagte, Germaine sei krank, schlug er mit der Faust auf den Tisch und befahl ihr, den Mund zu halten.
»Ich verbiete dir, darüber zu sprechen«, sagte er. »Germaine geht es bestens. Im übrigen«, fügte er eines Tages nach kurzer Überlegung hinzu, »werden wir ja sehen.«
Dabei strich er sich mit dem Daumen zufrieden über den Bart.
Und tatsächlich ging er am nächsten Morgen, als das Frühstück aufgetragen wurde, bis zu Germaines Treppenabsatz hoch und schrie:
»Germaine, bist du fertig?«
Einen Moment lang war es still, dann rief er nochmals, wobei er dieses Mal an die Tür seiner Tochter trommelte.
»Ich komme nicht herunter«, antwortete eine Stimme aus dem Zimmer.
»Doch, du kommst herunter«, erwiderte der Greis gebieterisch.
Er preßte sein Ohr an die Tür und griff nach dem Knauf. Das Blut rötete ihm die Wangen und schien seinen blauen Augen einen strahlenderen Glanz zu verleihen. Er hatte sich nach vorne gebeugt, wie um zu lauschen, und sein runder Rücken erinnerte an ein kräftiges Tier auf der Lauer nach Beute.
»Hörst du mich?« fragte er, »ich werde dich herunterholen.«
Bei diesem Geschrei war Adrienne leise bis zur halben Treppe des zweiten Stocks hinaufgestiegen, und auf einer Stufe postiert, den Rücken an die Wand gelehnt, lauschte sie mit einer Mischung aus Furcht und Neugier der einschüchternden Stimme ihres Vaters.
»Germaine«, fing Monsieur Mesurat von neuem an, »ich warne dich, ich komme ins Zimmer und hole dich herunter.«
Und um diese Drohung zu unterstreichen, drehte er mehrmals am Türknauf. Ein entsetzter Schrei antwortete ihm.
»Nein, Papa!« sagte Germaine. »Geh weg!«
Sie schwieg einen Augenblick, dann wiederholte sie:
»Geh weg, ich werde mich anziehen.«
»Kommst du herunter?« drängte Monsieur Mesurat.
Ein paar Sekunden verstrichen, dann antwortete die Stimme: »Ja«, aber sie war so schwach, daß Adrienne sie nicht hören konnte; das junge Mädchen erriet jedoch die Antwort ihrer Schwester am triumphierenden Ausruf des Vaters.
»Vortrefflich!« sagte der Alte. »Ich habe es ja gewußt.«
Er ließ den Türknauf los und ging mit raschen Schritten die Treppe hinunter. Als er an Adrienne vorbeikam, packte er ihre Hand und schüttelte sie zornig; er blickte seiner Tochter fest in die Augen:
»Und du«, sagte er, »wenn du mir noch einmal weismachen willst, sie sei krank…«
Er führte seinen Satz nicht zu Ende, sondern zuckte nur unwirsch die Schultern, ließ sie stehen und stieg ganz hinab.
Eine Viertelstunde später saßen Adrienne und Monsieur Mesurat noch immer am Tisch; ihren Milchkaffee hatten sie ausgetrunken. Mehr als einmal hatte der Greis Anstalten gemacht nachzuschauen, ob Germaine endlich kam, doch er begnügte sich damit, die Faust auf den Tisch zu stemmen und sich ein wenig nach vorne zu beugen, jederzeit bereit, seinen Stuhl zurückzuschieben und aufzuspringen; murrend besann er sich dann aber anders. Adrienne beobachtete dieses Mienen- und Gebärdenspiel aus dem Augenwinkel und schwieg. Seit einigen Tagen spürte sie, wie sich ein bisher unbekanntes Gefühl in ihr Herz einschlich, das sie zunächst entsetzt hatte, ihr dann aber so etwas wie heimliche Freude bereitete: sie verachtete ihren Vater. Jahrelang hatte sie ihn geachtet, vielleicht glaubte sie sogar, ihn mit jener leidenschaftslosen Liebe geliebt zu haben, die man den verschiedenen Mitgliedern seiner Familie zu gleichen Teilen schenkt, doch seit dem Tag, an dem er sie geschüttelt hatte, um sie zum Kartenspielen zu zwingen, hatte sie erkannt, daß einzig und allein Angst ihrer Achtung zugrunde lag und Kindesliebe dabei keine Rolle spielte. Noch jetzt hatte sie Angst vor ihm; sie fürchtete die Kraft dieser behaarten Faust und diese grausamen Finger, die rote Spuren auf ihren mißhandelten Armen hinterließen, und gerade eben hatte ihr Herz heftig gepocht, als der Alte ihre Hand gepackt und in der seinen
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