Adrienne Mesurat
zerquetscht hatte. Doch sie gewöhnte sich an diese Gewalttätigkeiten und litt weniger darunter; seit sie sich Mühe gab, alle Lächerlichkeiten ihres Vaters zu beobachten, glaubte sie, freier zu sein und leichter zu atmen. Es war wie eine Rache, die sie an ihm übte, eine Rache, deren Werkzeug und Opfer er war. War wirklich sie es, die ihn zwang, diese lächerlichen Grimassen zu schneiden, mit offenem Mund auf diese schwerfällige Art umherzulaufen und unappetitlich zu essen? Nein, aber man hätte meinen können, er tue alles, um sich in den Augen seiner Tochter herabzusetzen, die einen neugierigen und zugleich angeekelten Blick auf ihn heftete. Vielleicht ist es der größte Trost für Unterdrückte, sich ihren Tyrannen überlegen zu fühlen. Manchmal war Adrienne vor einer seltsamen Freude ganz außer sich, und während ein oder zwei Sekunden vergaß sie darüber sogar Maurecourt; nämlich immer dann, wenn ihr Vater, einer tief eingewurzelten Manie nachgebend, die Fliegen auf dem langen klebrigen Papierstreifen zählte, der im Salon vom Lüster herabhing, und mit erhobenem Zeigefinger und starrem Blick triumphierend ausrief: »Fünfzehn in einer Stunde!«, oder wenn er einen Brief zu beantworten hatte und dafür, eine berufsbedingte Angewohnheit, parallele Linien auf ein Blatt malte und ein prachtvolles Monsieur mit Korkenzieherschnörkeln hinkringelte, die ihn tiefe Seufzer kosteten.
Ihrer Schwester gegenüber hegte sie ganz andere Gefühle. Sie wußte, daß sie gehässig war, neidisch auf die Gesundheit und das Glück anderer, und all das würde sie ihr mit Leichtigkeit verziehen haben, wenn nicht der Widerwille, mit dem die
Krankheit sie erfüllte, jede mitleidige Regung in ihr erstickt hätte. Nie kam sie in Germaines Nähe, ohne den Atem anzuhalten, denn sie wollte nicht die Luft in sich aufnehmen, die die alte Jungfer in ihrer Vorstellung mit ihrem kranken Odem vergiftete. Bei Tisch litt sie ständig darunter, neben ihr zu sitzen, und freute sich jedesmal insgeheim, wenn ein Schwächeanfall ihre Schwester zwang, auf ihrem Zimmer zu bleiben. Allerdings versuchte sie ebensooft, diese Haltung zu bezwingen, und strengte sich an, sanftmütiger, als es ihrer Natur entsprach, mit Germaine zu reden, aber diese schien die wohlwollenden Bemühungen niemals zu schätzen und blieb der Übellaunigkeit einer unheilbar Kranken treu. Und außerdem spürte Adrienne tief in sich einen Ekel, den keine Erwägung je zu überwinden vermag, und sie verabscheute ihre Schwester, so wie man ein Vipernnest verabscheut, mit jenem natürlichen Grausen vor allem, was das Leben verkürzen oder seinen Quell verunreinigen kann.
Zwischen diesen beiden Menschen, der eine krank, der andere senil, war sie sich ihrer eigenen Kraft und Jugend sehr deutlich bewußt, aber die Freude, die ihr daraus erwuchs, war nie etwas anderes als ein Gefühl von kurzer Dauer. Wozu nützte es ihr denn, erst achtzehn Jahre alt zu sein? War sie glücklich? Und sie träumte davon zu fliehen, sich Maurecourt, in den sie all ihre Hoffnung setzte, vor die Füße zu werfen und ihn anzuflehen, er möge sie zur Frau nehmen. Gewiß waren es nur ein paar Schritte von der Villa des Charmes zum weißen Haus, aber diese Schritte trennten Welten voneinander. Und sie konnte ihre Lage nur in Gegensätzen sehen. Auf der einen Seite, bei sich zu Hause, Traurigkeit, auf der anderen, bei Maurecourt, das Glück. Hier das zu Ende gehende Leben, der ums Haus schleichende Tod, dort ein ruhiges, sorgloses Leben, erfüllt von einer beständigen Freude, die sich tagtäglich erneuerte. In ihrem Innersten zeichnete sie ein Idealbild jenes Doktor Maurecourt, den sie nur flüchtig erblickt hatte, der jedoch in ihrer Vorstellung den Charakter einer Symbolgestalt annahm. Mit einer Mystik, wie sie naiven Seelen eigen ist, fühlte sie sich ihm um so näher, je mehr sie unter den Umständen ihres gegenwärtigen Lebens litt, und fand zuweilen ein merkwürdiges Wohlbehagen unter die Bitterkeit der Demütigungen gemischt, denen sie ausgesetzt war. »Wenn ich ihn nicht liebte«, sagte sie sich, »würde ich nicht so sehr leiden.« Und dieser Gedanke tröstete sie ein wenig, so als müßten dem Doktor, wie durch einen geheimnisvollen Ausgleich, die Sorgen des jungen Mädchens irgendwie zugute kommen. All diese Phantastereien spukten unaufhörlich durch Adriennes Gehirn und machten sie zerstreut.
Ein Ausruf Monsieur Mesurais ließ sie zusammenzucken, und als sie zur Tür blickte, sah sie Germaine ins
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