Adrienne Mesurat
Kanapee im Salon, vor dem Fenster, obwohl keine Sonne schien und das Wetter eher nach Regen aussah.
Sobald Monsieur Mesurat aus dem Haus gegangen war, um am Bahnhofseine Zeitung zu kaufen, rief sie nach ihrer Schwester, die im Eßzimmer gerade die Möbel inspizierte. Adrienne kam widerwillig herbei. Zunächst hatte sie sich gefreut über die Grausamkeit, mit der ihr Vater eine Kranke zwang, ihr Bett zu verlassen, und in Gedanken an Germaines Boshaftigkeiten hatte sie dem, was sie in ihrem Innersten eine gerechte Strafe nannte, sogar Beifall gezollt; aber die Brutalität des alten Mesurat hatte alles übertroffen, worauf sie gefaßt gewesen war, und nun empfand sie ihrer Schwester gegenüber jenes vage Gefühl der Scham, das man in Gegenwart von Menschen verspürt, die über das verdiente Maß gedemütigt worden sind.
»Was ist?« fragte sie.
»Adrienne«, sagte Germaine mit einer Bestimmtheit, die das junge Mädchen überraschte, »ich habe mich entschlossen, von zu Hause wegzugehen.«
»Von zu Hause weggehen! Das ist doch nicht dein Ernst!«
»Darüber will ich nicht mit dir diskutieren«, fuhr Germaine mit harter, abgehackter Stimme fort. »Du verstehst sicher, daß ich in meinem Alter nicht mehr hier leben kann, einem Mann ausgeliefert, der mir nicht einmal erlaubt, im Bett zu bleiben, wenn ich das möchte, wenn es notwendig ist. Und außerdem ist das Klima hier schlecht, miserabel. Du siehst, wie kalt es heute morgen ist, nach dieser tagelangen Hitze. Den Tod kann man sich dabei holen. Ich brauche Wärme, Sonne, eine gleichbleibende Temperatur. Und ich muß mich auch frei fühlen können. Papa wird schrecklich alt. Er ist ein Tyrann, ein richtiger Tyrann. Du hast es ja selbst heute morgen gesehen … Diese lächerliche, abstoßende Szene. Seit Jahren schon denke ich daran fortzugehen, aber immer haben mir alle möglichen Schwierigkeiten angst gemacht, kleine Schwierigkeiten im Grunde genommen. Heute, heute morgen fühle ich mich stark genug, dieses Haus zu verlassen, aber ich kann nicht länger warten. Du mußt mir helfen, du mußt, hörst du? Außerdem wirst du mir keine Träne nachweinen.«
Sie lachte verbittert.
»Meine Gesundheit, mein Glück, ja, mein Glück, zuviel hängt von dem ab, was ich jetzt zu tun gedenke. Ich hasse dieses Haus, mein Zimmer, in dem es eiskalt wird, sobald die Sonne untergegangen ist. Ich kann nicht noch einen Winter hier verbringen. Mir reicht's. Ich will fort, fort.«
Adriennes Herz schnürte sich zusammen. Sie dachte sogleich an das Zimmer, das frei würde, das Fenster, an dem sie den ganzen Tag sitzen könnte. Sie machte einen Schritt auf das Kanapee zu.
»Aber Papa?« sagte sie mit bebender Stimme. »Was wirst du ihm sagen?«
»Papa wird vor meinem Aufbruch nichts erfahren.«
»Und das Geld, Germaine? Wo willst du das Geld für die Reise hernehmen?«
»Geld, Geld«, wiederholte Germaine, die etwas nervös wurde, »ich treibe schon welches auf, da kannst du sicher sein. Ich werde darüber nachdenken. Aber jetzt, willst du mir helfen, willst du mir helfen, von hier wegzugehen?«
Adrienne unterdrückte den Schrei, der in ihrer Brust hochstieg.
»Wenn du glaubst, daß ich dir helfen kann… « sagte sie.
Und sie unterbrach sich, von einer Scham erfüllt, die sie daran hinderte, ihre Freude zu verraten. Germaine begann zu lachen.
»Warum lachst du?« fragte Adrienne.
»Ach, nichts«, sagte Germaine. »Würdest du mir einen Brief schreiben, den ich dir diktiere? Hol Papier aus dem Sekretär.«
Wortlos gehorchte Adrienne, nahm Papier, eine Feder, Tinte und setzte sich an das runde Tischchen.
»Bist du soweit?« fragte Germaine.
Und sie diktierte ihr den folgenden Brief:
Madame, ich möchte gerne für eine Woche bei Ihnen aufgenommen werden, so lange, bis ich einen Ort gefunden habe, dessen Klima meinem allgemeinen gesundheitlichen Zustand förderlich ist. Ich erkläre mich im voraus einverstanden mit dem Preis, den Sie für Unterkunft und Verpflegung festgelegt haben. Ich bitte Sie zu entschuldigen, daß ich mich ohne jede Empfehlung an Sie wende, hoffe jedoch, meine gegenwärtige Verfassung möge mich in den Genuß Ihres Wohlwollens bringen. Ich komme morgen, Dienstag, mit einem Abendzug an. Ich grüße Sie, Madame, mit…
Sie stockte.
»Spricht man eine Nonne mit Madame an?«
»Ich weiß nicht«, sagte Adrienne. »Ich glaube nicht.«
»Macht nichts, ich habe keine Zeit, mich mit solchen Pingeligkeiten aufzuhalten: … mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen
Weitere Kostenlose Bücher