Adrienne Mesurat
Hochachtung. Unterzeichne und adressiere den Umschlag An die Frau Oberin des Hospizes von Saint-Blaise.«
»In welchem Departement liegt Saint-Blaise?«
»Ich weiß nicht. Schau im Larousse nach. Aber schnell. Es wird gleich regnen, und dann kommt Papa zurück.«
Adrienne nahm eines der Bücher, die ganz hinten im Sekretär standen, und begann zu suchen. Während sie mit einer Hast, die ihre Finger zittern ließ, im Lexikon blätterte, hatte sich Germaine auf einen Ellbogen gestützt und überwachte das Gartentor. Ihre Gesichtszüge waren starr, aber etwas Angespanntes in ihrem Blick verriet eine tiefe Angst. Mit einer Bewegung, die sie oft machte, zog sie sich einen Zipfel ihres Schals über die Brust.
»Na, was ist«, sagte sie nach einer Weile ungeduldig und klopfte mit der Hand auf die Armlehne des Kanapees.
Adrienne klappte das Buch zu und ergänzte die Adresse.
»Côte-d'Or«, antwortete sie. »Ich schreibe schon.«
»Gut, kleb den Umschlag zu. Eine Briefmarke findest du in der kleinen Schublade. Heute nachmittag, wenn du mit Papa spazierengehst, steckst du den Brief in den Postkasten.«
Sie hielt inné und schien zu überlegen.
»Warte, da ist noch etwas«, fuhr sie aufgeregt fort. »Ja, natürlich … Stell das Buch an seinen Platz zurück. Du mußt dem Droschkenkutscher schreiben, er soll morgen kommen, er soll an der Ecke Rue Carnot halten, um halb sieben.«
»Um halb sieben!« rief Adrienne.
»Ich will aus dem Haus, bevor Papa aufsteht. Sag dem Kutscher, er soll pünktlich kommen, sag ihm Viertel nach sechs, ich werde mit meinen Koffern draußen warten.«
»Und wenn es regnet?«
Germaine zuckte erschrocken zusammen. An diese Möglichkeit hatte sie nicht gedacht, aber sie faßte sich wieder.
»Macht nichts«, sagte sie, »ich werde da sein; mit einem Schirm geht es bestimmt. Halt! Der Schlüssel zum Gartentor, den mußt du aus Papas Rock nehmen.«
»Aus Papas Rock! Wann denn bloß, Germaine?«
»Ich weiß nicht, heute abend. Jetzt ist es soweit, es regnet.«
Adrienne stand auf und trat neben das Kanapee. Die Atemlosigkeit, mit der Germaine sprach, hatte das junge Mädchen fast ebenso nervös gemacht wie die Schwester.
»Wie soll ich ihm denn seinen Schlüssel wegnehmen?« fragte sie.
Germaine blickte sie mit ängstlichem Gesicht an.
»Warte, bis es Nacht ist«, sagte sie, »dann gehst du in sein Zimmer. Er steckt ihn immer in die rechte Rocktasche. Du nimmst ihn, gehst das Tor aufschließen, dann kommst du zurück und tust ihn wieder an seinen Platz. Du hilfst mir doch, oder?«
Adrienne schien unentschlossen.
»Nicht wahr?« drängte Germaine, die langsam den Kopf verlor. »Du sagst doch ja? Ich flehe dich an, Adrienne. Wenn ich es selbst könnte… Hast du Angst, daß er aufwacht?«
Ihr Gesicht erhellte sich. Sie richtete sich auf einem Ellbogen ein wenig auf und sagte mit leiserer Stimme:
»Ich schwöre dir, er wird nicht aufwachen. Er sagt oft genug, daß er sich nachts nicht rührt, daß selbst ein Donnerschlag ihn nicht wecken kann. Hörst du? Ich schwöre dir…«
»Gut«, sagte Adrienne.
Und plötzlich wurde sie selbst von so etwas wie Begeisterung gepackt und rief:
»Natürlich nicht, er wird sich nicht rühren, es ist ein Kinderspiel. Ich schreibe gleich dem Droschkenkutscher. Den Brief werfe ich heute nachmittag ein. Dann bekommt er ihn mit der Zustellung um neun. Wie lange wirst du fort sein?« »Ich weiß nicht. Vergiß nicht, Viertel nach sechs.« Unten im Garten wurde das Tor geöffnet. Sie sahen Monsieur Mesurat den Mittelweg heraufkommen. Adrienne schob den Brief in ihr Kleid, dann stellte sie Tinte und Feder in den Sekretär zurück. Als ihr Vater den Salon betrat, staubte sie gerade die Bronzeleuchter ab, die den Kamin zierten. Germaines Augen waren geschlossen, sie schien zu schlafen.
X
Am Nachmittag beobachteten Monsieur Mesurat und seine Tochter den Himmel mit einem Gefühl, das sich einzig in seiner jeweiligen Stärke unterschied, bei allen dreien aber dasselbe war. Würde es regnen? Und ihre ängstlichen Augen suchten zwischen den Wolken nach Anzeichen für gutes Wetter. Doch so groß der Verdruß des Alten auch sein mochte, der seinen täglichen Spaziergang in Gefahr sah, war er doch nichts im Vergleich zur Bangigkeit Adriennes und zu der panischen Angst, die Germaine umtrieb. Wären sie gläubig gewesen, hätten die beiden Mädchen gebetet. Bei jedem neuen Guß tauschten sie Blicke, die von entsetzlicher Traurigkeit erfüllt waren. Man hätte meinen
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