Adrienne Mesurat
erblickte sie die Villa des Charmes; das kam ihr seltsam vor, und sie mußte lächeln. Aus welchem Fenster konnte man das weiße Haus sehen? Würde sie den Mut haben, danach zu fragen?
Plötzlich ging die Tür auf, und Madame Legras erschien hinter einem kräftig gebauten, gelblichen Dackel, der sogleich knurrend an Adriennes Stiefeletten schnupperte.
»Ach, wie schön!« rief Madame Legras und streckte dem jungen Mädchen die Hände entgegen.
Sie trug eine weiße Seidenbluse mit einem breiten, duftigen Jabot aus Klöppelspitze und einen grauen Taftrock, der sich eng um ihre Hüften spannte und an den Schenkeln glänzte, schließlich in einer Art von rauschender Flut an ihren Beinen herabwogte. Ihr immer noch schwarzes, dichtes Haar bauschte sich über der Stirn und fiel bis auf die Augenbrauen. Sie erfüllte den Raum mit einem starken Resedaduft.
»Wir bleiben aber nicht hier«, fuhr sie fort, während sie Adriennes Hände umfaßte. »In meinem Zimmer haben wir es gemütlicher.«
Sie führte das junge Mädchen aus dem Salon und ging, den Arm um Adriennes Taille gelegt, mit ihr eine Treppe hinauf. Unterwegs redete sie wie ein fröhlicher Wasserfall.
»Wir hintergehen also Papa«, sagte sie, begleitet von einem leichten Druck ihrer Fingerspitzen. »Sie werden mir erzählen, warum er so böse ist. Ich behalte Sie nämlich den ganzen Nachmittag hier. Es ist wirklich ein Glück, daß ich Ihnen bei diesem Konzert begegnet bin. Wo ich mich doch so gelangweilt habe!«
Sie erklärte, daß sie nach La Tour-1'Evêque gekommen sei, um sich zu erholen.
»Ich bin nicht mehr in Ihrem Alter«, fügte sie augenzwinkernd hinzu. »Hier ist es. Treten Sie ein.«
Sie schob das junge Mädchen in einen kleinen, altrosa und rot tapezierten Raum. Auch hier stellte sich ein kläglicher Luxus zur Schau. Ein Bett aus lichtem Holz ahmte die launischsten Formen des achtzehnten Jahrhunderts nach und entstammte geradewegs einem Pariser Warenhaus, wo Möbel dieser Art in Tausenderserien hergestellt werden. Zwei Polsterstühle im selben Geschmack, doch weiß lackiert, standen links und rechts von einem jener winzigen, runden Tische mit Marmorplatte, die einzig dafür gemacht scheinen, daß man sie umwirft. Ein dicker, aber fleckiger Teppich dämpfte den Schritt.
»Oh, wie hübsch!« rief Adrienne.
»Nicht wahr?« bemerkte Madame Legras. »Gediegen! Reinstes achtzehntes Jahrhundert. Nehmen Sie Ihren Hut ab. Doch, doch, ich will es. Da ist ein Spiegel.«
Adrienne beugte sich ein wenig vor den Spiegel und nahm ihren Hut ab. Sie merkte, daß sie wieder rot geworden war, und ärgerte sich. Warum diese Schüchternheit einer so liebenswürdigen Frau gegenüber? Auf einmal bekam sie Lust zu lachen. Dieses Zimmer, dieses Geheimnis, die Flucht von daheim, alles zusammen hatte etwas Amüsantes und Unverhofftes, das sie entzückte. Plötzlich drehte sie sich zum Fenster und blickte über die musselinenen Scheibengardinen hinweg, konnte aber nur die Villa des Charmes sehen.
»Bedrückt Sie irgend etwas?« fragte Madame Legras, die sie beobachtete und Enttäuschung auf ihrem Gesicht las.
»Nein, nein«, antwortete Adrienne. »Es regnet immer noch.«
»Setzen Sie sich«, sagte Madame Legras und schob sie zu einem Lehnsessel. »In einer Stunde wird der Tee serviert. Bis dahin können wir Bekanntschaft schließen.«
Sie nahm Platz und legte sich ein paar Kissen in den Rücken, während der Hund sich auf einem Puff zu Füßen seiner Herrin ausstreckte.
»Zuerst ich, das läßt mir mehr Freiheit«, sagte sie. »Also, kurze Beschreibung von Madame Legras. Frauenzimmer mittleren Alters … Doch, doch«, bemerkte sie, als habe Adrienne protestiert, »mittleren Alters, allerdings eher auf dem Weg zum unerfreulichen. Leicht aufbrausender Charakter, ich warne sie, aber hier drinnen (dabei zeigte sie auf ihren Busen) ein Herz, ein wahres Frauenherz: Mutter, Schwester, Gattin, alles in einem, und auch Vertraute«, fügte sie mit erhobenem Zeigefinger hinzu. »Wunderliche Vorlieben, ja, sogar Schrullen. Frohsinn, mehr als genug. Soweit das Gemüt. Auf der anderen Seite ein ruhiges Leben, ohne Aufregungen, ohne große Ereignisse. Keine Träume, der Ehemann ein braver Kerl, keine Ambitionen. Kurz und gut, um es Ihnen mit einem Wort zu sagen, bürgerlich, bürgerlich, bürgerlich. Genügt Ihnen das?«
Adrienne gab sich einen gewaltigen Ruck. Sie spürte, daß der Augenblick gekommen war, ihre Schüchternheit abzuschütteln und ein paar freundliche Worte zu
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