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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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und verschwand.
    Adrienne legte sich wieder ins Bett. Unter ihrem Kissen zog sie eine kleine goldene Uhr hervor, die sie gewöhnlich an einer Kette im Rockbund trug; es war fünf nach sechs. Warum war Germaine so früh hinausgegangen? In diesem Regen würde sie völlig durchfrieren. Sie schloß die Augen und verkroch sich unter ihren Decken, tief im warmen Bett. Gern wäre sie eingeschlafen, um diese paar Minuten, die so zäh dahinflössen, nicht miterleben zu müssen. Plötzlich war ihr, als höre sie die Schritte ihres Vaters die Treppe herunterkommen, und von Angst gepackt, warf sie die Decken weit von sich. Aber sie hatte sich getäuscht: In der Stille ringsum war nichts zu vernehmen als das leise Flüstern des Regens an den Fensterscheiben.
    Bald schon hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf und warf einen Morgenmantel über. Warum kam der Wagen nicht? Warum schlug die Uhr nicht Viertel nach sechs? Und ohne zu bedenken, daß eine dieser beiden Fragen die Antwort auf die andere war, lief sie zwischen Bett und Fenster hin und her, von einer Aufregung getrieben, die sie vergebens zu bezwingen suchte.
    Sie hörte ihre Schwester draußen auf der Straße husten. In der Ferne schlug die Kirchturmuhr einmal. Sie nahm ihre Uhr und setzte sich ans Fenster; von diesem Platz aus konnte sie Germaine beinahe sehen. Sie entdeckte den Koffer, und ihr Blick schweifte von dem winzigen Zifferblatt in ihrer Hand zu der Bruchsteinmauer und zu dem abgeschabten kleinen Lederkoffer. Neben dem Bürgersteig floß Wasser, schmutzig und mit jener besonderen Kräuselung, die von der Form der Steine herrührte, so daß es wie ein langer geflochtener Haarzopf aussah. Trotz ihrer Ungeduld fiel ihr diese Nebensächlichkeit auf, denn sie suchte begierig nach einer Ablenkung, die die Zeit schneller verstreichen ließ.
    Endlich hörte sie den Wagen durch eine benachbarte Straße herunterkommen. Es konnte nichts anderes sein. Es war sechs Uhr zwanzig. Sie stand auf und zappelte mit den Händen wie ein Kind. Der Wagen tauchte auf. Im gleichen Moment hielt Adrienne sich die Ohren zu: Mußte dieser Krach nicht ihren Vater wecken? Ihre Furcht dauerte nicht lange. Der Wagen war bereits an der Straßenecke stehengeblieben, Germaine hatte ihren Schirm zusammengeklappt und mitsamt dem Koffer unter das riesige Lederverdeck geworfen. Jetzt faßte sie nach einem eisernen Griff am Kutschbock und kletterte, so gut sie es vermochte, in den Wagen. Adrienne hatte den Eindruck, sie lasse sich hineinfallen.
    Wenige Sekunden später war die Straße wieder leer und still. Über dem weißen Haus zitterte der junge Baum mit den schwarzen Blättern im Morgenwind.

 
XIII
     
    Sie konnte nicht verhindern, daß sie rot wurde, als sie ins Eßzimmer trat, denn sie fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem Monsieur Mesurat sie fragen würde, warum Germaine nicht herunterkam. Zu ihrer großen Verwunderung fand sie ihren Vater lesend vor und an einem Tisch, der nur für zwei gedeckt war. Ihre Verwirrung nahm noch zu, als der Greis ihr hinter seiner Zeitung guten Morgen wünschte mit einer Stimme, die in keiner Weise verändert wirkte. Sie glaubte zu träumen und setzte sich wortlos hin. Mit unsicherer Hand goß sie sich Kaffee in eine Tasse und brach ihr Brot entzwei. Ihr Herz pochte, und immer wieder schaute sie verstohlen zu ihrem Vater hinüber, aber die Zeitung zwischen den kurzen, rosigen Fingern des alten Mesurat zitterte kein bißchen und verbarg ihn völlig vor den Blicken seiner Tochter.
    Sie begann zu essen. Plötzlich ließ er die Zeitung zu Boden fallen und rückte seinen Stuhl näher an den Tisch.
    »Was ist los?« sagte er. »Fragst du mich heute gar nicht, wie warm es wird?«
    Und ohne auf ihre Antwort zu warten, zog er ein zerknülltes Blatt aus der Tasche und hielt es seiner Tochter vor die Augen.
    »Lies«, sagte er.
    Es war ein vierzeiliges, mit Bleistift hingekritzeltes Briefchen. Adrienne erkannte Germaines Schrift und las:
    Ich gehe fort, Papa. Versuche nicht, mich zu finden. Niemand kennt meine Adresse. Ich habe mir aus Mamas Schatulle allen Schmuck genommen, der mir gehört. Leb wohl.
    »Wo hast du das gefunden?« stotterte das junge Mädchen.
    Diese Frage blieb unbeantwortet. Der Greis steckte das Blatt wieder in die Tasche und schenkte sich Kaffee ein. Er zeigte das verschlossene Gesicht von Menschen, bei denen die Überraschung den Wutausbruch im Keim erstickt hat und die ihren Zorn schweigend in sich hineinfressen. Er trank seinen Kaffee, ohne

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