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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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Erschütterung seiner Gewohnheiten entzückte Adrienne zunächst, beunruhigte sie dann aber doch. Sie hatte zu lange nach den Zwängen eines strikten Tagesablaufs gelebt, als daß die Manie fester Zeiten nicht auf sie abgefärbt hätte, und diese plötzliche Unordnung im Kommen und Gehen ihres Vaters erschien ihr befremdlich. Ohne es sich richtig einzugestehen, war sie darüber beinahe so empört wie über ein anstößiges Benehmen.
    Allerdings wurden diese kleinen Sorgen bald durch Überlegungen ganz anderer Art vertrieben. Sie erinnerte sich, wie elegant Madame Legras an dem Tag gekleidet war, an dem sie ihre Bekanntschaft gemacht hatte, und wollte sie deshalb nicht aufsuchen, ohne zuvor allergrößte Sorgfalt auf ihre Toilette verwandt zu haben. Also ging sie in ihr Zimmer und inspizierte ihre Garderobe. Diese Durchsicht dauerte um so länger, als die Auswahl beschränkt war. Sie besaß drei Sommerröcke, einen aus ziemlich dünnem Serge, die anderen aus weißem Leinen. Es regnete. Den Leinenrock würde sie sicher schmutzig machen, denn in solchen Dingen hatte sie kein Glück, und dann, dachte sie, sähe dieses Kleidungsstück schrecklich aus. Andererseits bildete sie sich ein, daß Serge sie älter wirken lasse. Sie beschloß, alle drei Röcke zu probieren, und da sie unschlüssig blieb, entschied sie sich am Ende für ein Winterkostüm. Sie wählte einen Rock aus dickem, braunem Stoff und eine Plisseebluse mit steifen Manschetten und gestärktem Kragen, die ein recht bescheidenes Spitzenjabot zierte.
    Gegen halb vier war sie fertig. Dreimal hatte sie ihr Haar aufgelöst, um sich mit noch größerer Sorgfalt zu frisieren, doch nun war sie sicher, daß es an ihrem Äußeren nichts mehr zu verändern gab und sie so hübsch wie nur irgend möglich war. Immer wieder trat sie vor den Spiegel an ihrem Schrank, schloß die Augen und öffnete sie ganz plötzlich, um besser beurteilen zu können, welche Wirkung sie erzielte. »Wenn ich Maurecourt besuchen ginge«, fragte sie sich, »hätte ich mich dann noch besser gekleidet?« Sie schüttelte den Kopf und setzte sich hin. Ihre ganze Freude verflog bei dem Gedanken, daß sie ihn weder an diesem noch an irgendeinem anderen Tag besuchen würde und daß es keine Rolle spielte, ob sie gut oder schlecht gekleidet, hübsch oder häßlich war. Hatte sie wirklich nur für den Fünfuhrtee bei Madame Legras mehr als eine Stunde vor ihrem Spiegel zugebracht, einzig und allein dafür? Welche Hoffnung hatte sich in ihren Kopf geschlichen? Sie zuckte die Schultern und beschloß, zu ihrer Nachbarin zu gehen, bevor ihr Vater sie daran hindern konnte.
    Das Dienstmädchen nahm ihr den Regenschirm ab und führte sie in den Salon. Dieser Raum wirkte klein durch die zahllosen Dinge, die in ihm angesammelt waren, und erweckte doch einen recht unangenehmen Eindruck von Armut. Und abgesehen davon, daß die Möbel weder handwerklich gut gearbeitet noch aus einem schönen Material waren, hatten sie lange gedient und waren durch so viele Hände gegangen, daß sie schließlich das sonderbare, beinahe unpersönliche Aussehen von Mietgegenständen angenommen hatten. Man kam nicht in Versuchung, auf diesen Stühlen Platz zu nehmen, deren Anzahl und Verschiedenartigkeit wahrhaft erstaunlich war. In allen erdenklichen Ausführungen standen sie da, halbkreisförmig in den Ecken angeordnet oder um kleine, mit Lampen und Nippes beladene Tische gruppiert. Eine riesige Grünpflanze reckte ihre ausladenden Blätter über ein Pianino. Nicht weit davon wölbte ein Sekretär seinen dicken Bauch nach vorn, als wollte er die Griffe an seinen Schubladen bewundern lassen. Geraffte Vorhänge mit üppigem Fransenbesatz dämpften das Licht. Adrienne setzte sich auf eine Causeuse und wartete. Sie fühlte sich unbehaglich. Ein Spiegel, dessen überreiche Goldverzierungen schwärzlich verfärbt waren, warf ihr das Bild eines jungen Mädchens mit roten Wangen zurück, die gleich noch röter wurden. Fast tat es ihr leid, daß sie gekommen war, und sie fragte sich, was sie sagen würde, wie sie erklären sollte, warum sie schon so früh da war. Eine Standuhr, auf der sich Putti balgten, schlug halb vier. Langsam wurde sie ruhiger. Sie schmiegte sich in ihre Causeuse und ließ die Augen mit größerer Selbstsicherheit umherschweifen, obwohl es ihr noch immer schwer fiel, sich vorzustellen, daß sie wirklich bei Madame Legras war, in diesem Haus, das ihre Neugier so lange gereizt hatte. Als sie sich zum Fenster wandte,

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