Adrienne Mesurat
sagen.
»Aber gewiß«, sagte sie und errötete ein wenig. »Ich bin genauso bürgerlich wie Sie.«
»Meine liebe Kleine!« rief Madame Legras und streckte die Hand über den Tisch, um den Arm des jungen Mädchens zu drücken; und sie begann zu lachen. »Wollen wir einen Vertrag schließen? Ich lebe hier allein. Nicht ganz allein. Mein Mann kommt hin und wieder, aber seine Geschäfte nehmen ihn so sehr in Anspruch. Nun ja, ich bin oft allein, Sie auch, nicht wahr?«
»Ja, Madame.«
»Ja, Léontine«, verbesserte Madame Legras. »Also, jedesmal, wenn sich eine von uns beiden langweilt, besucht sie die andere…«
Sie hielt inné, weil sie Adriennes verwirrte Miene sah, fuhr aber sogleich lebhaft fort:
»… und wir gehen miteinander aus. Aber sprechen wir von Ihnen. Sie erlauben mir doch, Sie bei Ihrem Vornamen zu nennen? Adrienne, glaube ich?«
»Ja.«
»Nennen Sie mich doch bitte Léontine. Es gibt nichts Besseres, um Freundschaft und Vertrauen zu schaffen. Stellen Sie sich einfach vor, ich würde Sie schon seit ihrem sechsten Lebensjahr kennen, Sie werden sehen. Wollen Sie nicht ihre Jacke ablegen?«
Adrienne öffnete zwei Knöpfe an ihrer Jacke und stützte sich lächelnd auf die Armlehne ihres Sessels.
»Mein hübsches Kind«, begann Madame Legras, »wie alt sind Sie? In Ihrem Alter kann man das noch offen sagen. Neunzehn?«
»Achtzehn.«
»Achtzehn Jahre!«
Sie wandte sich ganz Adrienne zu und faltete die Hände auf dem Tisch. Ihre hellbraunen Augen leuchteten gelb und musterten das junge Mädchen voller Neugier. Ihre Mundwinkel zuckten.
»Achtzehn Jahre!« wiederholte sie im Brustton der Überzeugung. »Glückliche Adrienne! Mit einem Gesicht wie dem Ihren…«
Sie lachte kehlig.
»Lassen Sie den Kopf nicht so hängen«, sagte sie mit gedämpfterer Stimme. »Mit solchen Augen kann man der Welt ins Gesicht blicken.«
In ihrer Art zu sprechen lag etwas Einschmeichelndes und zugleich Vertrauliches, das auf Adriennes Gemüt einen merkwürdigen Eindruck machte. Diese plumpe Zudringlichkeit brachte sie völlig aus der Fassung, und sie spürte, wie sich ihre anfängliche Freude über diesen Besuch auflöste, je länger sie die Frau sprechen hörte. Vielleicht bemerkte Madame Legras diese Veränderung.
»Schon gut«, begann sie wieder mit ihrer normalen Stimme. Sie richtete sich ein wenig auf und lächelte. »Man ist nie hübscher, als wenn man nichts davon weiß, doch erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie verwöhnt worden sind. Würde es Ihnen gefallen, daß ich Ihnen aus der Hand lese?«
Adrienne hob den Kopf; ihre Augen glänzten:
»Sie können aus der Hand lesen?«
»Sie werden es gleich sehen«, sagte Madame Legras. »Geben Sie her.«
Adrienne streckte ihre Rechte hin.
»Die andere auch.«
Madame Legras nahm ihre beiden Hände, die auf dem Tisch lagen, und drehte sie um, so daß sie die Handflächen gut sehen konnte. Dann befühlte sie das Fleisch unterhalb des Daumens.
»Aha!« sagte sie und blickte Adrienne ins Gesicht. »Sie werden ein interessantes Leben haben…«
Sie beugte sich ein wenig vor und fügte nach einem Augenblick angespannter Betrachtung hinzu:
»…und ein langes. Kleinere Krankheiten, nichts Schlimmes.«
Sie setzte ihr Studium fort. Adrienne spürte Madame Legras' Atem auf ihrer Haut.
»Werde ich glücklich sein?« fragte sie nach längerem Schweigen.
»Was meinen Sie mit glücklich?« erwiderte Madame Legras, ohne den Kopf zu heben.
Adrienne zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
Sie zögerte und sagte schließlich:
»Sehen Sie eine Heirat?«
Madame Legras drückte die Hände des jungen Mädchens ein wenig, wahrscheinlich um die Linien besser zu erkennen. Sie beugte sich weit vor. Adrienne konnte den großen, mit Goldkügelchen besetzten Kamm sehen, der in ihrem Haarknoten steckte. Einen Augenblick herrschte Schweigen.
»Ja, eine Heirat«, sagte Madame Legras gedankenverloren.
Sie schaute hoch und schien das aufmerksame Gesicht des jungen Mädchens mit ihrem Blick zu befragen. Doch Adrienne schlug die Augen nieder.
»Und wann, diese Heirat?« fragte sie mit schlecht verhehlter Ungeduld.
»Sehr bald, aber das hängt von Ihnen ab.«
Adrienne wurde von heftiger Erregung gepackt. Sie wollte ihre Hände zurückziehen, die zu schmerzen begannen.
»Es hängt von mir ab?« wiederholte sie.
»Es hängt von der Geschicklichkeit ab, die Sie aufbieten. Sie sind hübsch, das genügt nicht. Der Mann ist ein Tier, das sich nur einfangen läßt, wenn
Weitere Kostenlose Bücher