Adrienne Mesurat
aufzublicken. Sobald er zu Ende gefrühstückt hatte, stand er auf und ging aus dem Haus.
Adrienne blieb allein zurück. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie allein in der Villa, und sie stellte es mit einer Mischung aus Freude und ängstlicher Unruhe fest, als berge diese Einsamkeit große Geheimnisse. Es stand ihr frei zu gehen, wohin sie wollte, sie konnte in Germaines Zimmer hinaufsteigen, sie konnte sogar das Haus verlassen, den Garten, weglaufen, so wie es ihr schon einmal in den Sinn gekommen war. Doch sie verharrte reglos in ihrem Sessel und betrachtete die Tasse Kaffee, die sie nicht hatte austrinken können. Etwas hielt sie davon ab aufzustehen, eine jähe, unerklärliche Trägheit. In wenigen Minuten würde ihr Vater wieder hier sein, und dann hatte diese kurze Unabhängigkeit ein Ende. Wieder wäre sie die Tochter, die Sklavin Antoine Mesurais. Sie stand nicht auf, sie empfand ein angenehmes Gefühl dabei, sich in ihr Schicksal zu ergeben, nicht mehr zu kämpfen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Schon so lange mühte sie sich, glücklich zu sein, nun würde sie es nicht mehr versuchen, sondern in den Tag hinein leben und sich den Wutanfällen des alten Mesurat fügen. Der Wunsch zu schlafen überkam sie. Sie legte den Kopf auf die Arme und schlummerte am Tisch ein.
Wenig später, als sie neun Uhr schlagen hörte, wachte sie auf und wunderte sich, daß ihr Vater noch nicht zurück war. Gewöhnlich ging er zum Bahnhof, um seine Zeitung zu holen, und kam nach einer Viertelstunde wieder. Wo war er? Sie beschloß, sich keine Gedanken zu machen, stand auf und strich sich das Haar ein wenig zurecht.
Dann kam sie auf die Idee, in das Zimmer ihrer Schwester hinaufzugehen, doch aus Angst vor einer möglichen Ansteckung zögerte sie: Seit Germaine ihr anvertraut hatte, sie sei sterbenskrank, war Adrienne die Vorstellung, ein Kleidungsstück ihrer Schwester zu berühren, unerträglich. Aber hatte sie sie andererseits nicht gerade deshalb zum Fortgehen ermutigt, weil sie ihr Zimmer bekommen wollte? Es erschien ihr unsinnig, wegen gesundheitlicher Bedenken auf die Frucht ihres Sieges zu verzichten. Außerdem, sagte sie sich zur Ermutigung, wenn ein Zimmer infiziert war, dann war es auch das ganze Haus.
Nach kurzem Überlegen beschloß sie, wie am besten weiter vorzugehen sei, und holte sich eine Untertasse aus der Küche, die sie mit Schwefel füllte. Dann stieg sie in den zweiten Stock hinauf. »Ich müßte doch glücklich sein«, dachte sie, »zum ersten Mal seit einem Monat werde ich mich wieder aus diesem Fenster lehnen. Liebe ich Maurecourt nicht mehr?« Diese Frage an sie selber trieb ihr das Blut in die Wangen.
Sie stieß die Tür auf und trat entschlossen ein, hielt jedoch den Atem an. Das Fenster war verriegelt; sie öffnete es und sog begierig die Luft ein, die zusammen mit ein paar Regentropfen ins Zimmer strömte. Eine ganze Weile betrachtete sie das weiße Haus. Das Schieferdach glänzte unter dem herabrinnenden Wasser wie Metall. Das Fenster im ersten Stock stand einen Spaltbreit offen, und sie konnte einen Zipfel des roten Teppichs sehen, den sie fast vergessen hatte. Sie spürte, wie Tränen ihren Blick trübten, und es gelang ihr nicht, sie zurückzuhalten.
»Warum bin ich nur so unglücklich?« sagte sie halblaut.
Und nachdenklich, mit einer Spur Groll in der Stimme, fügte sie hinzu:
»Seinetwegen.«
Mit einem Ruck schloß sie das Fenster, so als habe sie genug von diesem Schauspiel, das ihr das Herz zusammenschnürte. Sie nahm ein Streichholz, rieb es an der Unterseite des marmornen Kaminsimses und entzündete das gelbe Pulverhäufchen, aus dem sogleich beißende Rauchspiralen aufstiegen. Dann lief sie schnell hinaus.
Monsieur Mesurat kam erst um die Mittagszeit wieder nach Hause und wechselte mit seiner Tochter kein einziges Wort. Er schien sie nicht einmal wahrnehmen zu wollen. Bei Tisch las er seine Zeitung oder tat zumindest so, denn Adrienne überraschte ihn mehrmals, wie er über seinen Kneifer hinwegstierte, den Blick in eine Grübelei verloren, die er nur hin und wieder unterbrach, um sich einen Bissen in den Mund zu schieben. Sie war mit diesem Schweigen, das all ihren Erwartungen widersprach, ganz zufrieden und beglückwünschte sich in ihrem Innersten, so glimpflich davonzukommen.
Gleich nach dem Essen setzte Monsieur Mesurat seinen Hut auf und ging von neuem weg, ohne daß auch nur eine Sekunde die Rede davon gewesen wäre, seine Tochter solle ihn begleiten. Eine solche
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