Adrienne Mesurat
man es mit dem ersten Schlag zur Strecke bringt. Eine Unbeholfenheit am Anfang ist nicht wiedergutzumachen. Sind Sie reich?«
»Ja, ziemlich.«
Madame Legras blickte sie mit leicht geöffnetem Mund an.
»Wieviel?« fragte sie knapp.
Adrienne machte eine Gebärde, die ihre Unwissenheit ausdrücken sollte.
»Mein Vater hat Ersparnisse.«
»Fürchten Sie nichts, mein Kleines«, schloß Madame Legras und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Selbst wenn Sie wie eine Schlampe daherkämen, würde ich auf Ihren Erfolg setzen. Und dabei…«
Sie hob einen Finger, dann noch einen und zählte.
»… sind Sie jung, sind Sie hübsch und sind Sie reich! Nur noch einen Rat. Sie haben einen runden Hals, bringen Sie ihn zur Geltung; prachtvolles Haar, zeigen Sie es.«
Angesichts der Verwirrung und der Freude, die das Gesicht des jungen Mädchens verriet, hatte sie wieder ihren Befehlston angeschlagen.
»Schauen Sie nicht immer so ernst drein, Sie runzeln viel zu oft die Stirn. Eine zurückhaltende Miene, sonst nichts, hin und wieder ein Lächeln. Achten Sie auf Ihre Kleidung, mehr auf Taille gearbeitet. Keine Baumwollhandschuhe! Das alles zählt. Sie wollen gefallen? Merken Sie sich, Männern fallen hübsche Dinge niemals auf, die garstigen springen ihnen dagegen immer ins Auge. Merkwürdig, aber wahr. Fragen Sie sie nach der Farbe der hübschen Handschuhe aus Chairleder, die Sie am selben Morgen getragen haben, sie werden es nicht wissen. Aber ziehen Sie Zwirnhandschuhe an, und Sie werden sehen, was für eine Grimasse die Herren schneiden.«
Sie legte die Hände auf dem Tisch übereinander und setzte eine schlaue Miene auf.
»Jetzt verstehe ich einiges«, sagte sie mit so leiser Stimme, daß es nur noch ein Flüstern war. »Ihr Vater hält Sie ziemlich streng. Er überwacht Sie. Ich wette, Sie sind heimlich hergekommen.«
Adrienne zuckte zusammen; sie erinnerte sich ihrer Worte vom Tag zuvor, und es war ihr peinlich, daß Madame Legras so genau erraten hatte, warum ihr Vater nicht Bescheid wissen durfte. Das ärgerte sie, zugleich aber verspürte sie den unbändigen Wunsch, sich jemandem anzuvertrauen.
»Mein Vater mag nicht, daß ich allein aus dem Haus gehe«, sagte sie.
Sie stockte. Etwas in ihr hinderte sie daran, dieser Frau ihr Herz auszuschütten.
»Und er mag nicht, daß Sie allein aus dem Haus gehen, weil er fürchtet, Sie könnten zu… Sie könnten diesen Herrn besuchen«, beendete Madame Legras ihren Satz. »Wie ist er denn, Ihr Freund?«
Adrienne wurde feuerrot. Diese Fragen wühlten sie bis ins Innerste auf. Ihr war, als risse man ihr die Kleider vom Leib. Jemanden mit dieser Ungeniertheit von ihrer Liebe reden zu hören, noch dazu eine Fremde, erschien ihr ungeheuerlich. Doch sie faßte sich wieder bei dem Gedanken, daß Madame Legras ihr nützlich sein konnte.
»Er hat schwarze Augen«, begann sie gequält.
Sie dachte nach. Doch das war schon alles, was ihr von diesem Gesicht, das sie nur flüchtig gesehen hatte, in Erinnerung geblieben war.
»Jung?«
»Ja«, antwortete Adrienne nach kurzem Zögern.
»Und?« fragte Madame Legras ungeduldig. »Ist er groß?«
Adrienne konnte nicht antworten. Sie stellte fest, daß sie auf diese Dinge nie geachtet hatte, und mit einemmal bekamen sie in ihren Augen eine unerhörte Wichtigkeit. Hatte sie Doktor Maurecourt also nie angeblickt? Sie hatte ihn an jenem Tag, als sie die Arme durch die Fensterscheibe gestoßen hatte, die Straße heraufkommen sehen. Warum hatte sie ihn nicht genauer betrachtet? Jetzt gelang es ihr nicht, ihn zu beschreiben. Diese Entdeckung machte sie fassungslos. Sie fragte sich, ob sie nicht verrückt war, weil sie wegen eines Mannes litt, den sie wahrscheinlich nicht einmal wiedererkennen würde, wenn sie ihm auf der Straße begegnete. Fast im selben Augenblick spürte sie ein Sausen im Kopf und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Ein Schauer durchlief sie. Es war schwül in diesem Zimmer.
»Ach je!« sagte Madame Legras, während sie aufsprang und um den Tisch herumkam. »Sie sind ja auf einmal ganz merkwürdig.«
Ihre Stimme klang besorgt. Sie ergriff Adriennes Hände und tätschelte sie.
»Was haben Sie denn?« fragte Madame Legras. »Es ist doch nicht wegen dem, was ich gesagt habe?«
Adrienne winkte ab.
»Ich habe Kopfschmerzen«, murmelte sie. Und sie fügte gleich hinzu: »Mir dreht sich alles im Kopf.«
»Ihnen dreht sich alles im Kopf!« rief Madame Legras. »Sie müssen sich ausstrecken, mein Kind.«
Sie zwang
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