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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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Adrienne aufzustehen, schob ihren Arm unter den des jungen Mädchens und führte es zu ihrem Bett. Adrienne setzte sich. Ein Schwindelgefühl zwang sie, die Augen zu schließen; mit einer Hand umklammerte sie einen der Eisenstäbe des Bettgestells.
    »Legen Sie sich jetzt hin«, drängte Madame Legras, erschrocken über diese Unpäßlichkeit. Und diese Worte wiederholte sie so lange, bis Adrienne gehorchte.
    »Ist ja gut, wird schon nicht schlimm sein«, begann Madame Legras nach einer Weile.
    Unentschlossen stand sie mitten im Zimmer, als ihr plötzlich eine Idee zu kommen schien.
    »Bleiben Sie einen Augenblick ganz ruhig liegen«, sagte sie. »Ich hole nur eine kleine Stärkung, die Ihnen wieder auf die Beine helfen wird.«
    Sie ging rasch zur Tür und verschwand. Adrienne hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen.

XIV
     
    Erst bei Einbruch der Dunkelheit kehrte sie müde und niedergeschlagen nach Hause zurück. Madame Legras hatte ihr ein Glas Portwein zu trinken gegeben, von dem ihr schreckliche Kopfschmerzen geblieben waren, und die Beine versagten ihr fast bei jedem Schritt.
    Als sie das Gartentor der Villa des Charmes aufstieß, wurde ihr fast übel. Noch nie hatte sie sich so krank und so unglücklich gefühlt. Sie haßte das Quietschen dieses Gartentors, das sich hinter ihr schloß. Es regnete immer noch, und die schmutzigen Rinnsale, die neben dem Rasen dahinflössen, schwollen weiter an. Nichts war so trostlos wie dieser triefende Garten, der in der Finsternis versank.
    So schnell sie konnte, lief sie in ihr Zimmer, und nachdem sie ihre nassen Kleider abgestreift hatte, ließ sie sich auf ihr Bett fallen und verbarg das Gesicht im Kissen. Alles mußte also ständig von neuem begonnen werden. Immer wieder würde sie diesen Kreislauf erdulden müssen, in dem Verzweiflung auf Hoffnung und Furcht auf Freude folgte. Von diesem Besuch bei Madame Legras hatte sie sich alles erwartet, und nun kam sie aus der Villa Louise zurück, ohne auch nur gefragt zu haben, ob sie das Zimmer sehen könne, das auf die Rue Carnot ging. Ja, schlimmer noch, sie hatte es ausgeschlagen, sich dieser Frau anzuvertrauen, die ihr doch ganz offensichtlich helfen wollte. Aber sie empfand gegen Madame Legras eine unüberwindliche Abneigung, deren Ursache sie sich nicht erklären konnte. »Sie ist lächerlich«, sagte sie sich, »das ist es. Ich werde ihr nie sagen können, wen ich liebe.« Ihr war die Vorstellung unerträglich, diese dicken Lippen könnten sich schließen und wieder öffnen, um den Namen Maurecourt auszusprechen. Lieber wollte sie das Geheimnis ihr Lebtag bewahren und darunter so leiden wie jetzt.
    Dann gefiel es ihr, sich eine ideale Vertraute auszumalen, eine Person, der sie ohne Scham und ohne Reue von ihrem Kummer erzählen, die sie um Rat bitten könnte. Kannte sie niemanden? Ihre Schwester? Sie unterdrückte einen Schrei bei dem Gedanken, daß die alte Jungfer wußte, was in ihr vorging, und den Vater gewiß darüber unterrichtet hatte; und die Erinnerung an ihre Gespräche mit Germaine demütigte sie zutiefst. Sie preßte beide Hände gegen den Kopf, wie um den Lauf dieser peinigenden Gedanken aufzuhalten. Panische Angst überfiel sie. Sie war allein, nie würde sie jemandem ihr Herz ausschütten können. Sie sagte sich, wenn die Welt auf einen Schlag entvölkert wäre und sie die einzige Überlebende auf Erden bliebe, ihr Seelenleben würde sich nicht verändern. Ebensowenig wie sie noch schweigsamer werden könnte, wenn man ihr die Zunge abschnitte.
    Plötzlich kam ihr ein Einfall, der sie wachrüttelte. Sie reckte sich ein wenig hoch und stützte sich auf den Ellbogen. Sie würde Maurecourt wegen irgendeiner erfundenen Krankheit aufsuchen und im Laufe des Gesprächs dann von sich selbst reden, aber so tun, als handle es sich um eine Freundin. Sie wollte ihm die Geschichte dieser Unglücklichen erzählen, er wäre gerührt, würde vielleicht alles erraten; auf jeden Fall hätte sie den Boden bereitet, und es wäre eine Gelegenheit, ihn zu sehen; sie würde an der Tür des weißen Hauses klingeln, das Sprechzimmer betreten, das sie von Germaines Stube aus gesehen hatte, und ihren Fuß auf den roten Teppich setzen. Ihre Phantasie ging mit ihr durch. Wenn sie doch nur auf der Stelle zu dem Doktor gehen könnte! Warum sollte sie es nicht tun? Wenn sie tatsächlich krank wäre, würde sie doch auch nicht zögern! In einer Viertelstunde konnte sie Maurecourt gegenübersitzen; eine Viertelstunde, so lange

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