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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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ohne mich gemacht. Was würdest du nicht darum geben, mich sterben zu sehen, was? Keine Angst, ich bin robust!«
    Er schlug sich zweimal an die Brust. Und plötzlich versetzte er ihr eine Ohrfeige. Sie gab keinen Laut von sich. Er sah, wie sich ihre blasse Wange durch den Schlag ein wenig rötete. Ihre starren, vor Entsetzen geweiteten Augen, dieser von ohnmächtigem Haß erfüllte Blick reizten ihn. Er ohrfeigte sie noch einmal mit aller Kraft. Sie taumelte und stieß einen Laut aus, der wie ein Röcheln klang.
    Er trat zurück und schrie, zitternd vor Wut:
    »Warte nur! Ich gehe zu deinem Doktor, ich werde ihn lehren, eine Mesurat anzurühren! Hinter deinem Geld ist er her. Als allererstes werde ich dich enterben. Keinen Sou bekommst du. Niemanden wirst du heiraten. Mein ganzes Geld vermache ich dem Staat. Ha! Du wirst schon sehen! Morgen früh gehe ich als erstes zu Maurecourt und dann zu meinem Notar. Ihr habt euch hier lange genug über mich lustig gemacht! Die eine verschwindet mit meinem Schmuck, die andere entehrt meinen Namen mit einem Hungerleider, der es auf ihr Vermögen abgesehen hat, und ich, der Trottel, der alte Esel, ich begreife ja nichts, was?«
    Er unterbrach sich und sagte plötzlich, als er sie so reglos dastehen sah:
    »Glaubst du mir vielleicht nicht? Na gut, ich gehe noch heute abend hin, zu deinem Maurecourt!«
    Er trat über die Türschwelle und ging mit schnellen Schritten auf den Treppenabsatz hinaus. Adrienne folgte ihm mit den Augen, dann schien sich ihr ganzer Körper schlagartig aus seiner Erstarrung zu lösen. Sie stürzte aus dem Zimmer und riß die Tür hinter sich mit Gewalt ins Schloß. Im Finstern hörte sie den Vater mit veränderter Stimme ihren Namen sagen. Eine Sekunde verstrich. Sie glaubte, ein Licht zu sehen, das um den Kopf des Alten kreiste. Maßlose Angst packte sie, und ohne zu wissen wie, fast als habe eine unwiderstehliche Kraft sie in die Dunkelheit geschleudert, sprang sie mit einem Satz zur Treppe; ihr ganzes Gewicht landete auf den Schultern ihres Vaters, der das Gleichgewicht verlor und vornüber fiel, während sie sich am Geländer festhielt. Sie hörte ihn »He!« schreien, wie jemand, dem es den Atem nimmt. Offenbar schlug er der Länge nach hin, mit der Stirn auf eine Stufe, dann fiel er in zwei riesigen Purzelbäumen bis ganz hinunter; seine Füße stießen gegen die Holzstäbe, daß sie erzitterten; sie spürte das Beben des Geländers unter ihrer Hand und hörte zugleich einen zweiten Aufprall, der dumpfer klang als der erste.
    Sie beugte sich über das Geländer, so weit sie nur konnte, bis die Holzstange ihr in den Bauch schnitt. Schweiß rann ihr in die Augenbrauen und an den Schläfen herab. Halblaut rief sie:
    »Papa!«
    Nach einer Weile setzte sie sich auf die oberste Treppenstufe und wartete.

 
XV
     
    Einige Zeit verging. Sie fragte sich, ob sie nicht geschlafen hatte und wie spät es wohl sein mochte. Schmerzen zwangen sie, sich zusammenzukrümmen, und ein- oder zweimal versuchte sie aufzustehen, doch eine schreckliche Müdigkeit drückte sie nieder, und sie blieb, wo sie war, den Rücken an die Holzstäbe des Treppengeländers gelehnt. Sie fröstelte. Ihr Kopf kam ihr leer vor. Im nächsten Augenblick meinte sie, sie liege in ihrem Bett und träume: Sie träumte, daß sie auf der Treppe saß und sich an einen Streit mit ihrem Vater erinnerte, und diese Täuschung gab ihr so etwas wie Frieden. Sie wehrte sich nicht gegen den Schlaf, aber der schmale Lichtstreifen, der unter ihrer Zimmertür hervordrang, hielt sie wach. Sie hatte das Gefühl, dieser gleißende Strich, der sich durch die Dunkelheit zog, hindere sie daran, ihre schweren Lider zufallen zu lassen. Andererseits glaubte sie wieder zu schlafen und zu träumen.
    In diesem Zustand der Benommenheit fand sie ein wenig Ruhe, und schließlich wachte sie auf. Das Bewußtsein dessen, was geschehen war, kehrte allmählich zurück, aber sie glaubte es nicht. Was tat sie hier eigentlich? »Vielleicht bin ich eine Schlafwandlerin«, dachte sie. Sie lachte ganz leise, klammerte sich an die Holzstäbe und zog sich hoch. Dabei fiel ihr auf, daß sie angekleidet war; das Geräusch ihrer Absätze auf dem Parkett ließ sie wieder ganz zu sich kommen, und sie lief in ihr Zimmer.
    Das Fenster war geschlossen. Schwerer Petroleumgeruch hing im Raum. Die Lampe mußte schon lange brennen. Sie schaute auf die Uhr. Es war zwei. Sie hatte geschlafen, nicht in ihrem Bett, denn es war nicht aufgeschlagen, sondern

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