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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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habt euch abgesprochen, um den alten Mesurat hinters Licht zu führen, stimmt's?«
    Sie schüttelte den Kopf. Der Greis zog ein Blatt Papier aus der Tasche.
    »Und was ist das?« fragte er.
    Es war der Brief, den sie dem Droschkenkutscher geschrieben hatte und den sie voll Entsetzen wiedererkannte.
    »Du siehst«, sagte Monsieur Mesurat, während er das Blatt in die Tasche steckte und ein wenig zurücktrat, »Lügen ist zwecklos. Soll ich dir verraten, wie ich den Tag verbracht habe?«
    Er lief im Zimmer auf und ab, mit einer geheuchelten Ruhe, die abstoßender war als sein Zorn, weil man spürte, daß er sich daran weidete.
    »Gut. Als erstes bin ich zu dem Droschkenkutscher gegangen. Ihr zwei seid nicht besonders schlau, wenn ihr glaubt, der würde mir nicht sofort alle Auskünfte geben, die ich brauche. Du kannst es dir wohl denken, ich bin nicht so einfältig, mir vorzustellen, daß deine Schwester, faul, wie sie ist, zu Fuß zum Bahnhof geht. Und tatsächlich, was erfahre ich? Daß ihr einen Wagen für Viertel nach sechs bestellt habt … Endlich bekomme ich auch den Brief gezeigt, deinen Brief, dumme Gans! Zweiter Schritt, der Bahnhof. Als ob ich keine Freunde am Bahnhof hätte, wo ich doch zweimal am Tag hingehe und mit allen Leuten plaudere! Und was höre ich? Mademoiselle Mesurat hat den Zug um sechs Uhr fünfundfünfzig nach Paris genommen. Na?«
    Er hielt inné und blickte, die Hände im Rücken verschränkt, seine Tochter mit einer Art triumphierendem Aufbäumen an. Sie gab keinen Laut von sich.
    »Das ist noch nicht alles«, fuhr er sich ereifernd fort. »Ich komme nach Hause, und du bist ausgegangen!«
    Er wiederholte das »Ausgegangen!« mit einer Emphase, die in jedem anderen Augenblick lächerlich gewirkt hätte.
    »Du glaubst, du bist frei, du gehst hinüber, diese … diese Legras besuchen. Ha! Auch über sie habe ich Erkundigungen eingezogen, über deine Léontine Legras. Aber darauf kommen wir noch. Schließlich gehe ich in Germaines Zimmer hinauf. Es riecht abscheulich nach Schwefel. Ich habe begriffen. Du willst ihr Zimmer. Du desinfizierst es, freust dich schon bei dem Gedanken, daß du dich nun den lieben langen Tag aus dem Fenster lehnen kannst. Irrtum. Germaine hat mir alles erklärt.«
    Adrienne rührte sich nicht. Er musterte sie wutentbrannt und redete weiter:
    »Ja. Aber dieses Zimmer wirst du nicht kriegen. Ich schließe es nämlich ab, heute noch. Und der Schlüssel…« – er schlug sich an der Stelle, wo die obere Westentasche saß, gegen die Brust – »der Schlüssel ist hier. Du wirst ihn mir nicht stehlen wie den anderen. Jetzt bin ich klüger geworden und weiß, daß ich vor dir auf der Hut sein muß.«
    Diese Worte wurden von einem bitteren Lachen begleitet. Es war leicht zu durchschauen, daß er diesen Auftritt mitsamt den Gebärden und Ausbrüchen hinter seiner Zeitung sorgfältig vorbereitet hatte. Doch bald schon übermannte ihn wieder der Zorn, und mit einer Raserei, die sein Bemühen, Eindruck zu machen, hinwegfegte, ließ er seinem Groll freien Lauf.
    »Du wirst schon sehen«, brüllte er plötzlich. »Du wolltest alles in diesem Haus verändern, du wirst die erste sein, die darunter zu leiden hat. Ich werde dich hier einsperren. Du wirst nur mit mir aus dem Haus gehen. Bis zu deiner Volljährigkeit wirst du tun, was ich will.«
    Dann folgte ein Satz, den er sich aus seinem früheren Beruf bewahrt hatte und den er zuweilen noch gebrauchte: »Du wirst die Regeln in all ihrer Strenge zu spüren bekommen.«
    Er keuchte und schlug mit der Faust so fest auf den Tisch, daß die Lampe zitterte.
    »Mach dir also keine Hoffnungen, daß du herumstreunen kannst wie bisher. Mit den nächtlichen Spaziergängen ist Schluß. Verstanden? Germaine hat es mir erzählt. Ich werde deine Schwester zurückholen. Sie wird dich überwachen.«
    Plötzlich schrie er:
    »Gib mir ihre Adresse!«
    Adrienne antwortete nicht.
    »Gib mir ihre Adresse oder ich bringe dich um!« brüllte der Alte und lief feuerrot an; aber das junge Mädchen schüttelte den Kopf. Er machte ein paar Schritte auf Adrienne zu. Sie hielt den Atem an und biß die Zähne zusammen. Ihr Herz schlug so wild, daß sein Pochen sich anhörte, als würde jemand mit dem Absatz stampfen. Er sah sie an und zuckte zweimal die Schultern.
    »Dumme Gans!« sagte er mit dumpfer Stimme. »Du willst hier frei sein, du willst dich mit ihm treffen können, wann es dir paßt, jeden Abend zu ihm laufen, wie früher. Aber du hast die Rechnung

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