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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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draußen.
    Als sie ihre Uhr gerade in die Nachttischlade zurücklegte, glaubte sie plötzlich, ihren Vater zu hören. Er schrie wie vorhin. Sie drehte sich um und sah nichts. In ihrem Kopf dröhnte es. »Wie kann er denn schreien«, dachte sie, »wo er doch im Bett liegt?« Und sie zog ihre Bluse aus und löste ihr Haar, aber sie merkte, daß ihre Finger zitterten, und das machte ihr angst. »Ich werde zu Papa hinaufgehen«, sagte sie laut und mit fester Stimme.
    Sie nahm die Lampe mit beiden Händen und ging aus dem Zimmer, die Augen starr auf die Treppe gerichtet, die in den zweiten Stock führte. Ihr war, als verstreiche unendlich viel Zeit und als könne sie nicht gerade gehen. Sie erreichte die Treppe und stieg mühsam drei Stufen hinauf. Ein tiefes Stöhnen drang aus ihrer Brust, und sie blieb stehen. »Ich höre ihn schnarchen«, sagte sie halblaut, doch sie wußte, daß sie nichts hörte. Mit der rechten Hand klammerte sie sich an das Geländer und hielt die Lampe ein wenig über ihren Kopf, dann stieg sie Schritt für Schritt weiter, wie ein Kind, und kam endlich auf den Treppenabsatz des zweiten Stocks.
    Das Zimmer ihres Vaters lag genau über ihrem. Links davon war Germaines Zimmer. Sie ging nie zu ihrem Vater hinein, denn er wollte nicht, daß jemand bei ihm herumstöbere, wie er sich ausdrückte. Sie trat an die Tür und lauschte, dann griff sie nach dem Knauf und drehte ihn vorsichtig herum, aber die Tür war verschlossen. Sie lehnte sich an die Wand und wartete.
    Das Grauen verlieh ihren Gesichtszügen etwas Theatralisches. Auf einmal bewegte sie sich, machte wie widerwillig ein paar Schritte nach vorn und murmelte: »Nein.« So ging sie bis ans Geländer und beugte sich ein wenig in das Treppenhaus. Ihre Haare strichen ihr über die Wangen. Sie schaute, sah aber nichts. Das Licht fiel ungünstig. Sie hielt die Lampe mit fast ausgestrecktem Arm und sah einen Körper am Fuß der Treppe liegen. Ihre Hand zitterte. Es gibt eine Art, auf dem Boden zu liegen, sich nicht zu rühren, die niemanden täuschen kann, die in nichts dem Schlaf oder der Ohnmacht gleicht; der Tod läßt sich nicht nachahmen. Sie erkannte den Kopf in einer dunklen Lache, dann die Arme, ganz eigenartig ausgestreckt über dem Kopf, und die angewinkelten Beine; die beiden Füße lagen nebeneinander auf der untersten Stufe. Sie zog den Arm zurück, und das Bild verschwand.
    An der Wand Halt suchend, ging sie wieder hinunter, mit einem langsamen Schritt, der in der Stille widerhallte und dessen gleichmäßigem Klang sie zu lauschen schien. In diesem Moment hätte jemand an ihr vorübergehen können, ohne daß es ihr aufgefallen wäre, so sehr war sie mit ihren Grübeleien beschäftigt. Sie setzte einen Fuß vor den anderen mit einer Sorgfalt, wie man sie unbewußt auf die gewöhnlichsten Bewegungen verwendet, wenn ein alles beherrschender Gedanke von der Seele Besitz ergriffen hat und all ihre Fähigkeiten in Anspruch nimmt. Ihre Augen waren leer, doch auf dem Grund dieses ausdruckslosen Blicks lag etwas wie höchste Überraschung und verlieh dem übrigen Gesicht einen Zug unsäglicher Dummheit.
    Als sie wieder in ihrem Zimmer war und die Tür geschlossen hatte, stellte sie die Lampe auf den Tisch und schaute in den Schrank. Die Schatulle aus Olivenholz lag halb geöffnet auf einem Stapel Wäsche, so, wie Monsieur Mesurat sie zurückgelassen hatte, als er sie in den Schrank geworfen und seiner Tochter gesagt hatte, sie habe ihre Mitgift angebrochen. Sie zählte das Geld, tat es an seinen Platz, klappte den Deckel der Schatulle zu und drehte den kleinen Schlüssel, der steckengeblieben war, einmal herum. Dann schloß sie den Schrank und begann, sich ohne Eile auszuziehen.
    Es war heiß im Zimmer. Sie öffnete das Fenster und atmete einen Augenblick lang die kalte Luft ein, die wie eisige Hände ihre nackten Schultern berührte. Von der Landstraße her bellten Hunde; es waren zwei, die einander zu antworten und sich mit ihren heiseren Stimmen gegenseitig anzufeuern schienen. Der Mond schimmerte sanft. Der junge Baum über dem weißen Haus wiegte sich im Wind, welcher allmählich die Wolken vom Himmel verjagte. Alles war still. Sie rieb sich mit der flachen Hand die Schultern und lief fröstelnd zu ihrem Bett. Was sie tat, die vertrauten Bewegungen, zu denen sie jetzt wieder zurückfand, erfüllten sie mit einer animalischen Freude, einer Freude, über die sie nicht weiter nachdachte, die sie aber in die Worte hätte kleiden können: »Alles

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