Adrienne Mesurat
brauchte sie, um sich anzukleiden und die Straße zu überqueren. Dieser Gedanke machte sie ganz schwindlig, doch aus Feigheit schob sie den Besuch lieber auf. Heute war es zu spät. Morgen würde sie bestimmt hingehen.
So weit war sie in ihren Grübeleien gekommen, als sie hörte, wie das Gartentor geöffnet und wieder geschlossen wurde, und sie erkannte die Schritte ihres Vaters, der auf dem Mittelweg näherkam und dann die Außentreppe heraufstieg. Er trat ins Haus. Auf einmal packte sie Entsetzen, und sie überlegte kurz, ob sie nicht den Schlüssel umdrehen sollte. An diesem für sie so ereignisreichen Tag hatte sie fast überhaupt nicht an ihren Vater gedacht, sie wußte nicht, was er gemacht hatte, deutete seine Abwesenheit aber als schlechtes Vorzeichen und fürchtete den Moment, da sie ins Eßzimmer hinuntergehen und dem Greis unter die Augen treten mußte. Sie sagte sich, daß sie mit diesem Mann, dessen Brutalität an Wahnsinn grenzte, zum ersten Mal eine Nacht allein im Haus verbringen würde. Und fast bedauerte sie, daß Germaine fortgegangen war. Das Dienstmädchen schlief nicht in der Villa des Charmes; Désirée war verheiratet und hatte ein Zimmer in der Stadt.
Sie kleidete sich wieder an und wartete. Eine lange Viertelstunde verstrich, dann hörte sie ihren Vater, der sie wie jeden Abend zum Essen rief. Sogleich fühlte sie sich weniger bange, beinahe erleichtert, und antwortete mit einer Stimme, die etwas von einem Schrei hatte. Hoffnung erfüllte ihr Herz, und sie wünschte sich sehnlichst, Germaines Abwesenheit möge zwischen ihr und dem Vater überhaupt nicht zur Sprache kommen. Vielleicht würde er ja so tun, als sei nichts geschehen. Ihr schien, sie müßte sterben, wenn es heute abend zu einem Streit käme; die Aufregung erschöpfte sie völlig, und sie war so schwach, daß sie sich beim Hinuntergehen auf das Treppengeländer stützen mußte.
Sie wagte nicht, ihren Vater anzuschauen, der eine Abendzeitung las und dabei seine Suppe schlürfte. Schweigend setzte sie sich auf ihren Platz und begann zu essen; aber die Angst und heftige Kopfschmerzen verdarben ihr den Appetit. Sie würgte ein paar Löffel Suppe herunter, ließ dann aber ihren noch fast vollen Teller abtragen. Das Nachtmahl ging schleppend dahin. Monsieur Mesurat aß hinter seiner Zeitung versteckt, ohne seine Tochter zu beachten, und stand auf, sobald er mit dem Nachtisch fertig war.
Wortlos begab er sich in den Salon, zündete eine Lampe an und entfaltete, nachdem er in seinem Lehnstuhl Platz genommen hatte, zum zwanzigsten Mal Le Temps, um die gründliche Lektüre, die er dieser Zeitung zu widmen pflegte, wiederaufzunehmen. Adrienne war ihm gefolgt und hatte sich in eine andere Ecke gesetzt. Sie hoffte, ein wenig später den Salon verlassen und sich in ihr Zimmer zurückziehen zu können, als sie merkte, daß ihr Vater sie aus den Augenwinkeln beobachtete. Worauf wartete er? Sie sollte es bald erfahren.
Als Désirée gegangen war, stand er auf, um hinter ihr das Gartentor und die Eingangstür abzuschließen. Diese Vorsichtsmaßnahme war nicht ungewöhnlich, denn eine achtjährige Gewohnheit hatte sie zur festen Regel werden lassen, trotzdem erschreckte sie das junge Mädchen, und es zitterte, als die Schlüssel sich geräuschvoll in den Schlössern drehten. Adrienne dachte daran, um Hilfe zu rufen, Madame Legras zu rufen, aber der Verstand brachte den Instinkt zum Schweigen. Wenn tatsächlich jemand käme, was sollte sie dann sagen?
Sie stand auf und machte mit klopfendem Herzen ein paar Schritte im Salon, ohne sich erklären zu können, woher diese plötzliche Angst kam. Ihr Vater ging über den Flur. Noch hatte sie Zeit, aus diesem Raum zu fliehen und sich in ihrem Zimmer einzuschließen, aber die Unmöglichkeit, einen Grund für eine solche Handlungsweise zu finden, ließ sie zögern: sie wollte auch nicht lächerlich erscheinen.
Als Monsieur Mesurat eintrat, fiel ihr auf, wie müde er aussah. Er wirkte sogar ein wenig kleiner als sonst. Vielleicht lag es an seiner gebückten Haltung und den hängenden Schultern. Er kam durch den Salon auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Sie bemerkte tiefe, schwarze Ringe unter seinen Augen; seine Stirn legte sich in Falten. Mit beiden Händen ergriff er seine Rockaufschläge und blickte seine Tochter an, die den Kopf wegdrehte.
»Du bist heute nachmittag aus dem Haus gegangen?« fragte er.
»Ja.«
»Wo warst du?«
Sie stützte beide Hände auf das runde Tischchen hinter sich und
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