Adrienne Mesurat
kommen. Doch sie überlegte, daß sie nicht bis Tagesanbruch hier bleiben konnte. Es war nicht einmal vier Uhr, und der Himmel war dunkel. Sie fürchtete, sich zu verkühlen, krank zu werden wie ihre Schwester; andererseits konnte sie die Vorstellung nicht ertragen, das Fenster zu schließen, zwischen sich und der Welt diese vier Glasscheiben zu wissen, die genügten, ihre Schreie zu ersticken.
Wieder hatte das Dröhnen eingesetzt. Sie lauschte diesem Hin- und Herwogen in ihrem Kopf. Einen Augenblick lang hatte sie den Eindruck, als komme es von außen, aus einer anderen Ecke des Zimmers, und schwelle immer mehr an. Manchmal war dieses Geräusch kaum zu vernehmen, und zugleich war es auf unerklärliche Weise ein gewaltiges, nie abreißendes Tosen. Sie fühlte, daß sie Fieber hatte und womöglich zu phantasieren begann. Was dann? Wer würde sie zum Beispiel daran hindern, aus dem Fenster zu springen? Tausend Ängste fielen über sie her. Die Lampe würde ausgehen, und dann wäre sie allein in der Dunkelheit. Sie würde sich erkälten, eine Lungenentzündung bekommen. Verrückt werden. Plötzlich stürzte sie zum Tisch und griff nach der Lampe, um sie ganz in ihrer Nähe zu haben, denn dieses Licht und diese Wärme beruhigten sie, und außerdem war diese Lampe eine Waffe; sie konnte sie einem Angreifer an den Kopf werfen. Wem an den Kopf werfen? Sie drehte sich zu ihrer Zimmertür um und bereute, sie nicht abgeschlossen zu haben. Jetzt war es zu spät. Nie würde sie es schaffen, den Abstand zu überwinden, der sie von ihr trennte. Ihre Kräfte ließen nach. Durch eine Art Verdoppelung sah sie sich selbst, kaum bekleidet, an den Fensterpfosten gelehnt, die Lampe in der Hand. Was tat sie da? Worauf wartete sie? Und auf einmal wurde sie von namenlosem Entsetzen gepackt. Es war nicht, wie eben noch, Schaudern vor etwas, was um sie herumstrich, das Gefühl, belauert zu werden, es war eine elende Furcht vor sich selbst, vor ihren kleinsten Bewegungen, vor ihrem Schatten und sogar vor ihren Gedanken, in denen sie Anzeichen des Wahnsinns zu erraten glaubte. Und fast wider Willen brach ein Schrei aus ihrer Brust, dann noch einer. Das erleichterte sie. Sie schrie: »Zu Hilfe!« Diese Stimme, die aus ihr hervordrang, überraschte sie. Es wunderte sie, mit welcher Leichtigkeit sie schreien konnte, und allmählich ließ ihre Angst nach.
In der Nachbarschaft bellten hier und da Hunde. Einen Augenblick verstummte sie, glücklich über diesen Lärm, den sie verursacht hatte, dann begann sie mit festerer und schrillerer Stimme von neuem, und da niemand antwortete, nahm sie alle Kraft zusammen und rief: »Madame Legras!«
Eine lange Weile verging, ohne daß sie etwas anderes hörte als das rasende Hundegebell und das Rasseln der Ketten, an denen die erregten Tiere vergebens zerrten. Doch nun ging es ihr besser. Ihre Kräfte kamen wieder, sie stellte die Lampe auf den Tisch, lief mit großen Schritten durchs Zimmer und drehte den Schlüssel an ihrer Tür einmal herum.
Auf ihrem Bett sitzend, betrachtete sie den Himmel, der langsam die Farbe wechselte; die Sterne schienen zurückzuweichen und sich in nichts aufzulösen. Lange Zeit verharrte sie reglos, dann überlief sie ein Frösteln, und sie gähnte. Nahezu unbewußt ließ sie sich auf ihr Kissen fallen, zog die Decken über sich, und zusammengerollt, tief in ihrem Bett vergraben, schlief sie ein.
XVI
Drei Stunden später wurde sie durch laute Stimmen geweckt, die vom Erdgeschoß heraufdrangen. Augenblicklich erinnerte sie sich an alles, was am Vorabend geschehen war, und setzte sich auf. Sie horchte ein paar Minuten, erkannte die Stimme Désirées, die mit jemandem sprach, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagte. Ihr Herz begann wild zu pochen. Sie stand auf, drehte den Schlüssel herum, um die Tür aufzuschließen, machte das Fenster zu und wartete. Unten redete Désirée immer noch, wobei sie ihre Worte ab und zu durch Wehgeschrei unterbrach. Plötzlich hörte Adrienne, wie sie nach ihr rief, aber sie gab keine Antwort und blieb bewegungslos mitten im Zimmer stehen. Zum ersten Mal dachte sie an die Polizei, an die Untersuchung. Wie sollte sie sich verhalten? Was sollte sie sagen? Würde man ihr glauben, wenn sie von einem Unfall sprach? Hatte sie jemand in der Nacht schreien gehört? Doch verglichen mit den Schrecken, die sie durchgestanden hatte, war ihre gegenwärtige Unruhe nichts. Am hellichten Tag fühlte sie sich selbstsicherer. »Es gibt keine Beweise«,
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