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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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ist gut, nichts hat sich verändert, ich gehe wie gewöhnlich zu Bett, öffne das Fenster, reibe mir die Schultern.« Sie blies die Lampe aus und kroch unter ihre Decken.
    Im Finstern gähnte sie und schloß die Augen, doch ein unausgesetztes Dröhnen hinderte sie am Schlafen. Es war ein Ton, der abwechselnd sehr nahe und sehr fern klang, und ein ganz leises Geräusch genügte, um ihn zum Verstummen zu bringen. Sie kam auf den Gedanken zu singen, doch schon nach den ersten Noten brach sie ab, denn sie erkannte in der Melodie, die sie vor sich hin summte, den Lieblingsmarsch ihres Vaters. Das Dröhnen setzte wieder ein. Sie klatschte in die Hände; dieses Geräusch machte ihr angst. Sie hielt sich die Ohren zu, hörte aber sogleich eine Art dumpfes Brausen, wie von einem schnell dahinfließenden Strom.
    Mit einer ungestümen Bewegung warf sie die Decke weit von sich und stand auf. In diesem Augenblick überkam sie das Grauen. Daß sie wieder auf den Beinen war, flößte ihr Furcht ein. Wenn sie hier stand, so hatte das zu bedeuten, daß etwas nicht stimmte. Was wollte sie tun? Die Lampe finden und sie anzünden, denn sie hatte Angst. Sie stammelte: »Es ist dumm, es ist dumm.« Der Unterkiefer fiel ihr herab, und sie konnte den Mund nicht mehr schließen. Dann fand sie die Streichhölzer, rieb eines an, es erlosch, dann ein zweites, dessen Flamme im Wind, der zum Fenster hereinwehte, unsicher flackerte. Endlich gelang es ihr, die Lampe anzuzünden.
    Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Im Licht konnte sie keine Angst haben. Man hat keine Angst, wenn es hell ist. Sie würde einfach schlafen gehen, ohne die Lampe auszublasen. Die Kirchturmuhr schlug drei. Sie zählte laut mit und legte sich wieder ins Bett.
    Als sie die Augen schloß, sah sie das rötliche Licht durch die dünne Haut ihrer Lider. Sie fand sich damit ab, nicht schlafen zu können, und blieb regungslos liegen, die Hände über dem Laken verschränkt, den Blick geradeaus gerichtet. Das Dröhnen begann abermals, doch mit der brennenden Lampe machte es ihr nichts aus. Sie zwang sich, an ihre Kindheit zu denken; sich ganz bestimmte Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen, wie ihre Schulkameradinnen gekleidet waren, ihre Namen und Gesichter. Ihr kam vor, als würde diese ganze Welt samt ihren Stimmen, ihrem Gelächter in der Stille der Nacht wieder lebendig, aber sie fand kein Vergnügen an diesem Spiel: es ermüdete sie; und dann mußte sie eine Wahl treffen unter den Erinnerungen, die von ihr gleichsam gezwungen wurden, aus der Vergangenheit hervor zu tauchen. Es gab Gesichter, die sie aus ihrem Gedächtnis verbannte. Sie wollte sich auf Schulszenen beschränken. Sie wollte sich nicht in der Rue Thiers sehen, wenn sie nach dem Unterricht heimkam, das Gartentor hinter sich schloß, durch den Flur und dann die Treppe hinauf bis zu ihrem Zimmer ging, hier, in diesem Haus.
    Irgend etwas lastete entsetzlich auf ihr. Es war, als habe jemand Gift in die Luft gemischt, die sie einatmete. Sie legte beide Hände auf die Brust. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um das Grauen zu bezwingen, das in ihr aufstieg. In der Verwirrung ihres verzweifelt kämpfenden Geistes fiel ihr ein Satz ein, den sie von einer Schulkameradin in Sainte-Cécile gehört hatte: »Es heißt, wenn man in Gefahr ist, muß man ›Jesus, Maria, Joseph!‹ sagen.«, doch sie brachte kein Wort hervor und wischte nur mit den Haaren die Schweißtropfen weg, die ihr an den Schläfen herabrannen.
    Plötzlich öffnete sie den Mund und stieß einen Schrei aus. Sie hörte diese Stimme und hatte Mühe, ihre eigene darin zu erkennen; es war der kurze Schrei der Angst. Sie sprang aus dem Bett und lief ans Fenster in der Hoffnung, jemanden vorbeikommen zu sehen oder wenigstens ein Geräusch zu hören, welches sie ablenken und ihr beweisen könnte, daß es nicht weit von ihr lebendige Menschen gab, aber die Stille der Morgendämmerung lag über allen Nachbarhäusern und ihren leeren Gärten. Sie hatte das Gefühl, in diese Zimmerecke getrieben worden zu sein und nie mehr in ihr Bett zurückzukönnen. Ihre Einbildungskraft befreite sich mit einer Art von Raserei und rächte sich gewissermaßen für den Zwang, dem sie unterworfen worden war. Adrienne streckte einen Arm nach dem Lehnsessel aus, auf dem ihr Morgenmantel lag, und nachdem sie ihn um die Schultern geschlagen hatte, setzte sie sich auf das Fensterbrett. Einen Augenblick lang spürte sie so etwas wie Sicherheit. Sie brauchte nur zu rufen, und jemand würde

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