Adrienne Mesurat
dachte sie.
Im selben Augenblick rief Désirée wieder nach ihr. Sie antwortete mit einem ziemlich leisen »Ja« und öffnete die Tür einen Spalt. Am Fuß der Treppe schrie das Dienstmädchen:
»Ein Unglück, Mademoiselle!«
»Was ist passiert?« fragte Adrienne unwirsch.
»Monsieur ist die Treppe hinuntergestürzt.«
»Monsieur«, schrie das junge Mädchen, »wo ist er?«
Désirée antwortete nicht gleich, schließlich sagte sie:
»Leider Gottes, Mademoiselle!«
Dann war alles still. Adrienne wehrte sich gegen die furchtbare Aufregung, die sie erfaßte, und ging über den Treppenabsatz, stützte sich auf das Geländer, konnte aber nicht hinunterblicken. Sie hörte die Person, mit der Désirée vorhin gesprochen hatte, vor Entsetzen aufschluchzen; es war eine alte Frau, die auf dem Markt Kräuter verkaufte und die Villa kurz nach Désirée betreten hatte, um ihre Ware feilzubieten. Adrienne verlor die Geduld.
»Also«, sagte sie schroff, »was ist los?«
Eine jähe und abscheuliche Neugier zwang sie, nach unten zu schauen. Da erkannte sie, was sie schon wenige Stunden zuvor im Schein der Lampe gesehen hatte. Von dem Mosaik in den blassen Farben hob der Körper sich deutlich ab. Der schwarze Fleck, der sich um den Kopf herum ausbreitete, kam ihr jetzt kleiner vor. Sie starrte ihn lange an und konnte nicht glauben, daß es sich um ihren Vater handelte. In der vergangenen Nacht hatte sie es für einen Augenblick geglaubt, als sie, über das Geländer im zweiten Stock gebeugt, mit ihrem Licht die Leere absuchte, bis es ihr gelang, seine Strahlen auf den Vorzimmerboden fallen zu lassen. Jetzt, ohne die furchterregende mitternächtliche Stille und ohne diese undurchdringliche Dunkelheit, die das ganze Haus mit Grauen erfüllte, begriff sie nichts mehr. Es war, als habe man eine mit Sägemehl gefüllte Puppe an die Stelle des Körpers gelegt, den sie vorher gesehen hatte. Sie spürte die Blicke der beiden Frauen, die auf ein Zeichen der Erschütterung in ihrem Gesicht lauerten, und wurde blaß.
»Wie ist das passiert?« stotterte sie.
»Hat Mademoiselle nichts gehört?« fragte Désirée, eine kleine brünette Person, die ein graues Jäckchen und einen grauen Rock trug.
Adrienne schüttelte den Kopf, dann trat sie vom Geländer weg und machte schwankend ein paar Schritte auf ihr Zimmer zu.
Ihr kam ein Gedanke.
»Rufen Sie Madame Legras«, befahl sie.
Und sie ging in ihr Zimmer zurück und schloß die Tür; dann hörte sie Désirée und die Alte schnell aus dem Haus und durch den Garten laufen.
Eine lange Viertelstunde verstrich. Sie wartete, auf dem Bett sitzend, und überlegte, wie sie sich verhalten sollte. Es überraschte sie, daß sie nicht stärker erschüttert war. Man hätte meinen können, die vorangegangene Nacht habe alles Entsetzen, zu dem sie fähig war, in ihr erschöpft. Nichts spielte sich so ab, wie sie gedacht hatte. Vielleicht hätte sie gerade eben, in Gegenwart dieser beiden Frauen, aufgeregter wirken müssen. Sie beschloß, einen stummen Schmerz zur Schau zu tragen, da zu bleiben, wo sie war, und sich nicht zu rühren.
Endlich ging unten das Tor wieder auf, und vier oder fünf Leute kamen durch den Garten. Sie glaubte, eine Männerstimme zu hören, und spürte, wie ihr das Blut zum Herzen strömte. War es der Polizeikommissar? Darüber vergaß sie ihre Vorsätze und sprang auf, hatte aber nicht den Mut, aus dem Fenster zu blicken. Der Schrankspiegel zeigte ihr das Bild einer Frau mit dunklen Schatten unter den Augen, fahlen Wangen und aufgelöstem Haar, das wirr auf einen rosafarbenen Morgenmantel herabfiel. Ihre Hände waren kalt.
Fast im selben Augenblick vernahm sie im Vorzimmer ein Geräusch von Schritten und Stimmen, vor dem sie sich fürchtete. Schreie drangen zu ihr. Sie hörte die Ausrufe von Madarne Legras heraus und war verblüfft über den vulgären Klang dieser kräftigen Stimme; vielleicht war es auch dieses Organ, was sie für eine Männerstimme gehalten hatte. In einem ersten Impuls wollte sie den Schlüssel im Schloß umdrehen, doch sie überlegte, wie unklug dies wäre, und tat das Gegenteil: sie öffnete die Tür.
»Mein armes Kind«, rief Madame Legras unten an der Treppe, »sind Sie da? Bleiben Sie oben, ich komme zu Ihnen.«
Dann wandte sie sich an die Umstehenden und gab eine Anweisung, die das junge Mädchen zutiefst aufwühlte.
»Holen Sie den Doktor, wegen des Totenscheins.«
Den Doktor, Maurecourt! Keinen Augenblick hatte Adrienne an diese Möglichkeit
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