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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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gedacht. Endlich würde sie diesen Mann sehen, noch dazu hier im Haus; wahrscheinlich würde sie sogar mit ihm sprechen müssen. Ihre Pläne vom Vortag wurden also Wirklichkeit. Eine wilde Freude stieg in ihrem Herzen auf. Die Dinge geschahen, wie es schien, ohne ihr Zutun. Sie sagte sich, daß sie um so unbefangener mit ihm sprechen konnte, als er ihre Verwirrung dem Ereignis zuschreiben würde, das ihn in die Villa des Charmes führte. In ihrer Kopflosigkeit murmelte sie: »Hoffentlich spricht Papa höflich mit ihm!« und verstummte sogleich, bestürzt über die Worte, die ihr über die Lippen gekommen waren.
    Kurz darauf war Madame Legras bei ihr. Sie hatte sich in aller Eile angekleidet und trug einen weiten, braunen Reisemantel über einem Morgenrock, dessen Saum aus weißen Krepprüschen darunter hervorschaute und ihr um die Knöchel schlug. Ein schwarzer Schleier fiel von ihrem Hut herab und verbarg das Gesicht.
    »Das ist ja entsetzlich«, sagte sie und schloß die Tür hinter sich. »Wie ist das passiert?«
    Adrienne zuckte mit den Schultern und senkte den Kopf.
    »Mein armes Kind«, begann Madame Legras von neuem, »nun sind Sie allein.«
    Sie setzte sich neben sie auf das Bett und ergriff ihre Hand.
    »Vergessen Sie nicht, daß ich da bin, hm?«
    Eine Minute verging. Madame Legras starrte das junge Mädchen unverwandt an.
    »Mein armes Kind«, wiederholte sie. Und als rede sie mit sich selbst, fuhr sie fort: »Der arme Monsieur Mesurat! Er wollte im Dunkeln die Treppe hinuntergehen. Wie unvorsichtig in seinem Alter. Aber er hatte doch das Geländer. Und Sie haben nicht daran gedacht, ihm zu leuchten?«
    »Ich habe ihn nicht hinuntergehen hören«, sagte Adrienne kurz angebunden.
    »Sie schliefen tief und fest«, seufzte Madame Legras.
    Adrienne wünschte, diese Frau möge wieder gehen, und bereute, sie gerufen zu haben. Ihr mißfiel die hartnäckige Art, mit der Madame Legras nach den Umständen des Unfalls fragte.
    »Er starb also ohne einen Schrei«, setzte diese ihre Bemerkungen fort. »Schrecklich. Bestimmt wird es eine polizeiliche Untersuchung geben.«
    Adrienne zuckte zusammen.
    »Ist Ihnen das unangenehm?« fragte Madame Legras. »Eine reine Formalität, mein Kind.«
    In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.
    »Herein!« rief Madame Legras, ohne die Hand des jungen Mädchens loszulassen.
    Es war Désirée.
    »Der Doktor kommt in zehn Minuten«, sagte sie leise und fügte dann hinzu:
    »Es wird erzählt, in der Nacht seien Schreie zu hören gewesen …«
    »Das hätte ich sicher gehört«, fiel ihr Madame Legras lebhaft ins Wort. »Ich schlafe schlecht, das kleinste Geräusch weckt mich.«
    Mit einer Handbewegung schickte sie das Dienstmädchen weg, aber dieses schien nicht gehen zu wollen.
    »Mademoiselle braucht nichts?« fragte sie.
    Adrienne schüttelte den Kopf. Désirée sah sich um. Plötzlich blieb ihr Blick an der Lampe hängen. Adrienne folgte diesem Blick und zitterte. Das ganze Petroleum war verbraucht.
    »Na, so was« meinte Désirée halbblaut, »Mademoiselles Lampe ist leer. Ich habe sie doch erst vorgestern gefüllt.«
    Schnell huschte sie an Adrienne und Madame Legras vorbei und nahm die Lampe, die sie neugierig betrachtete; gleich darauf ging sie auf Zehenspitzen hinaus, wie aus einem Krankenzimmer.
    Madame Legras drückte die Hand des jungen Mädchens.
    »Was halten Sie von dieser Frau?« fragte sie.
    Adrienne starrte Madame Legras erschrocken an.
    »Wieso?« fragte sie mit einer Stimme, die ihr im Halse steckenblieb.
    »Weil mir ihre Art, mit Ihnen zu sprechen, etwas sonderbar schien«, sagte Madame Legras. »Ich könnte schwören, daß sie sich irgendwelche Gedanken macht. Diese Lampe. Was ist so ungewöhnlich daran, daß sie leer ist?«
    Sie schlug ihren Hutschleier hoch und blickte Adrienne in die Augen.
    »Sie haben eine schlaflose Nacht verbracht, das ist alles. Nicht wahr? Genauso wie diese Schreie, von denen sie sprach. Es könnte doch sein, daß Sie im Traum geschrien oder um Hilfe gerufen haben.«
    Adrienne rührte sich nicht. Sie wagte weder ein Wort zu sagen noch eine Bewegung zu machen, wie ein Tier, das in die Falle gegangen ist und einen Augenblick reglos verharrt, ehe es sich wehrt bis auf den Tod. Sie spürte Madame Legras' Finger, die sich gierig um die ihren schlangen, wie um sie besser in ihre Gewalt zu bringen.
    »Meine kleine Adrienne«, sagte sie sanft, »möchten Sie, daß ich mit dem Doktor und dem Polizeikommissar spreche?«
    Adrienne war, als

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