Adrienne Mesurat
verfinstere sich das Zimmer. Ohne zu antworten, ließ sie sich an die Brust dieser Frau sinken, die sie haßte und die ihr nun zart den Kopf streichelte und Worte flüsterte, die das junge Mädchen nicht hörte.
Zweiter Teil
I
»Sie sehen, es ist alles sehr gut gegangen, wenn man so sagen kann. Warum hätte jemand wegen der Beerdigung des armen Monsieur Mesurat auch Schwierigkeiten machen sollen? Dieser Doktor Maurecourt war vortrefflich. Und er macht einen so netten Eindruck. Sie sollten ihn kennenlernen, überhaupt etwas mehr unter die Leute gehen, nicht immer allein bleiben, wie Sie es tun. Das ist sehr schlecht. Wissen Sie, was mich ein wenig befremdet hat, ein ganz klein wenig? Ich darf es Ihnen doch sagen? Daß kein Sterbeamt in der Kirche zelebriert wurde. Ach! Sie werden mir sagen, jeder soll darüber denken, wie er will, aber ich finde, eine ganz kleine Feier hätte nicht geschadet. Ich bin nämlich gläubig. Denken Sie bitte nicht, ich sei überspannt oder schwärmerisch veranlagt, aber ich bin nach den Grundsätzen von vor dreißig Jahren erzogen worden. Ich bin bürgerlich, ich gehe zur Messe. War ihr armer Papa nicht gläubig?«
Es war Madame Legras, die so sprach. Sie trug ein fliederblaues Kleid und einen ausladenden Strohhut, saß unter einem Baum in ihrem Garten und bestickte ein Taschentuch. Von Zeit zu Zeit hob sie die Augen und warf unter ihrer Hutkrempe hervor einen Blick in Adriennes Richtung, die neben ihr saß und zuhörte. Adrienne war in Trauer. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie.
Sie mochte dieses Geplapper von Madame Legras nicht. In manchen ihrer Sätze meinte sie eine hinterlistige Absicht zu erraten, die ihr zu denken gab, und dennoch lauschte sie weiter dem endlosen, unzusammenhängenden Gerede dieser Frau. Seit dem Begräbnis ihres Vaters besuchte sie sie jeden Vormittag und blieb bis zur Essenszeit. Nachmittags machten sie häufig einen gemeinsamen Spaziergang oder eine Ausfahrt mit dem Wagen. Ein- oder zweimal aßen sie auch miteinander zu Abend. Nicht, daß Adrienne ihre Meinung über ihre Nachbarin geändert hätte. Ganz im Gegenteil, sie verabscheute sie mehr denn je, aber man hätte meinen können, etwas binde sie an Madame Legras, ohne daß sie die Kraft aufbrächte, sich von dieser verhaßten Gesellschaft zu befreien. Sie war überzeugt, daß Madame Legras alles, was am Tod ihres Vaters geheimnisvoll sein mochte, durchschaut hatte. Das allein hätte sie von einer so gefährlichen Person fernhalten müssen, doch sobald Adrienne nicht in ihrer Nähe war, fühlte sie sich von einer Unruhe befallen, die sie sich nicht erklären konnte. Das Geschnatter ihrer Nachbarin fehlte ihr. Sie mußte einfach diese geschwätzige und aufdringliche Stimme hören, die sie beständig an das tragische Ende Monsieur Mesurais erinnerte. Dann empfand sie einen quälenden Widerwillen und zugleich so etwas wie Erleichterung. Wortlos, die Hände im Schoß verschränkt, hörte sie diesen geistlosen Betrachtungen zu, unter die sich Mutmaßungen mischten, bei denen sie erschauerte. Manchmal fiel in diesen Monologen der Name Maurecourt, und immer wirkte er auf Adrienne, als habe ihr jemand einen Schlag versetzt. Das junge Mädchen bemühte sich, diese Erregung hinter einem undurchdringlichen Gesicht zu verbergen, und antwortete auf die Fragen von Madame Legras nur in knappen Worten.
»Sie haben mir zu verstehen gegeben, daß er Sie nicht aus dem Haus gehen ließ«, begann diese wieder, während sie hingebungsvoll kleine Blätter in die Ecke ihres Taschentuches stickte. »Armer Monsieur Mesurat! Er wirkte so nett, so schüchtern. Hatten Sie mir nicht gesagt, er sei schüchtern?«
»Ja.«
»Nun sind Sie frei«, bemerkte Madame Legras sanft. »Was werden Sie mit Ihrer Zeit anfangen?«
Adrienne zuckte ratlos die Schultern.
»Sie müssen ein wenig zu vergessen suchen«, fuhr Madame Legras fort. »Herrgott, wenn man so jung ist wie Sie, hat man das ganze Leben vor sich. Hat es Sie nicht überrascht, wie reich Sie sind, als der Notar das Testament ihres Papas verlas?«
»So reich bin ich nun auch wieder nicht«, meinte Adrienne.
»Ach, was! Sie haben sein ganzes Vermögen geerbt.«
»Zunächst muß ich mit meiner Schwester teilen, und dann bekomme ich meinen ganzen Anteil erst, wenn ich volljährig bin.«
Madame Legras stieß einen Seufzer aus. Sie wußte sehr wohl, daß es schlecht um Germaine stand.
»Gott erhalte Ihnen Ihre Schwester!« sagte sie.
Sie schwiegen einen
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