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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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Augenblick. Es war ein strahlender Tag, und der Garten roch wundervoll. Eine üppige Fliederpracht erfüllte die reglose Luft mit ihrem schweren und traurigen Duft. Auf dem großen runden Rasen, der die beiden Frauen vom Haus trennte, jagte der gelbe Dackel mit hängendem Bauch umher und verfolgte unter durchdringendem Gekläff die Schmetterlinge. Vögel zwitscherten in den Linden.
    »So«, sagte Madame Legras und streifte den Fingerhut ab. »Schluß für heute.«
    Sie wickelte Schere, Fingerhut und Garn in das Taschentuch. Dieses Zeichen kannte Adrienne gut, denn es kündigte ihr jeden Tag den Augenblick an, in dem Madame Legras genug von ihr hatte. Es war so demütigend für sie, daß sie sich jedesmal schwor, nie wieder zu kommen oder eine halbe Stunde früher zu gehen, doch sie wußte genau, sie würde es nicht fertigbringen. Sie zog ihre Uhr hervor und tat erstaunt.
    »Viertel vor zwölf!« rief sie.
    »Oh! Ich sage das nicht, um Sie zu vertreiben«, antwortete Madame Legras wie jeden Tag.
    »Aber mein Mittagessen wartet«, erwiderte Adrienne.
    »Ja, dann…«, sagte Madame Legras lächelnd.
    Sie standen auf und verabschiedeten sich.
    »Kommen Sie doch heute nachmittag wieder«, rief Madame Legras, als Adrienne den Garten verließ.
    Zu Hause hielt Adrienne sich meistens im Salon auf, bis das Essen serviert wurde, und beschäftigte sich, so gut es ging. Oft band sie wie früher eine Schürze über ihren schwarzen Sergerock und wischte an jenen Stellen über die Möbel, wo Désirées
    Staubtuch gewiß nie hinkam. Es machte ihr auch Spaß, die Bücher aus den Regalen zu nehmen, mit einer Kleiderbürste den Staub vom Schnitt zu entfernen und sie anschließend der Größe nach wieder in den Bücherschrank zu stellen. Es kam ihr nie in den Sinn, eines davon zu lesen. Wie so vielen Frauen, deren Kindheit trostlos war und die an ihre Schulzeit nur unangenehme Erinnerung haben, widerstrebte es ihr, etwas Längeres zu lesen, so als handle es sich dabei um eine lästige Arbeit, eine Hausaufgabe.
    Ganz selten ging sie in ihr Zimmer, fast nur, um sich schlafen zu legen. Unten in den Erdgeschoßräumen fühlte sie sich nicht so allein, weil das Eßzimmer durch einen Flur mit der Küche verbunden war. Sie fürchtete vor allem die Einsamkeit. Eine Tages, als sie Pyramus, den Dackel, bellen hörte, kam ihr der Gedanke, sich einen Hund zu kaufen, aber sie mochte diese Tiere nicht, und Katzen schienen ihr das Attribut alter Jungfern zu sein, deshalb wollte sie auch diese nicht.
    Hätte Madame Legras ihr vorgeschlagen, in die Villa Louise zu ziehen, sie wäre, das spürte sie, mit Freuden darauf eingegangen, trotz allem, was ihr die Freundschaft dieser Frau so zuwider machte. Als sie eines Tages ein wenig nachdachte, wurde ihr klar, daß Madame Legras nicht nur eine Person war, die mit ihr sprechen und sie zerstreuen konnte, sondern der einzige Mensch auf der Welt, dessen Gesellschaft sie sich wünschte.
    So seltsam es auch klingen mag, sie konnte sich nicht einmal mehr das kleinste Gespräch mit dem Doktor vorstellen. Sie bemühte sich sogar, nicht allzu oft an ihn zu denken, aus Angst vor der maßlosen Traurigkeit, die ihr daraus entstehen würde. Der bloße Gedanke, daß er hier ins Haus gekommen war, erschien ihr seltsam und beinahe fürchterlich. Durch die Erinnerung daran kam sie ihm nicht näher, sondern entfernte sich nur noch weiter von ihm. Als er gekommen war, hatte sie nicht gewagt, ihm gegenüberzutreten, und sie vermochte nicht zu glauben, daß er sich auch nur einen Augenblick in dem Salon aufgehalten hatte, in dem sie saß. Das entsetzte sie wie eine Art Sakrileg, so als wäre das Haus dieses Besuchs, dieser Gunst nicht würdig gewesen. Sie schaute fast nie mehr aus dem Fenster. Weit davon entfernt, sich frei zu fühlen und zu tun, was sie wollte, hatte sie vielmehr den Eindruck, daß etwas Unwiderrufliches geschehen und es nun sinnlos war, die Augen zu dem weißen Haus schweifen zu lassen und ihren Träumen nachzuhängen; und wenn sie der Versuchung nachgab, die sie ans Fenster trieb, wenn ihr Blick dieses Haus mit dem blauen Dach und dem zitternden Baum darüber umfing, dann bereute sie dies so heftig, daß die Freude, die sie dabei empfunden hatte, in keinem Verhältnis stand zu der Qual, die meistens auf sie folgte.
    Das Wichtigste war ihr, Madame Legras reden zu hören. »Im Grunde genommen ist sie eine gutherzige Frau«, sagte sie sich, wie um ihr ständiges Bedürfnis nach den dummen und hinterlistigen

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