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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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sie sich nicht auf den Weg machen. Da es also keinen Familienrat gab und die Verwandten Adriennes es ablehnten, sich um sie zu kümmern, ernannte der Richter von La Tour-1'Evêque Maître Biraud, Notar in La Tour-1'Evêque, zum Vormund von Mademoiselle Adrienne Mesurat bis zum Tage ihrer Volljährigkeit. Germaine Mesurat besaß allerdings ein Beratungsrecht und konnte Maître Biraud diesen oder jenen Vorschlag zur Verwaltung von Adriennes Vermögen unterbreiten. Es wurde vereinbart, daß Adrienne monatlich eine vom Notar und Germaine festgelegte Summe erhalten sollte, die natürlich von ihrem Erbteil abgezogen wurde. Da Germaine volljährig war, konnte sie über ihr Geld verfügen, wie es ihr beliebte. Innerhalb von drei Wochen war alles geregelt.
    Mit der Zeit gewöhnte Adrienne sich schließlich an ihre neuen Lebensumstände, ihre Einsamkeit und sogar an jene Traurigkeit, die nicht mehr von ihr wich. Ihr war, als leide sie weniger. Wenn sie erwachte, überfiel sie bei dem Gedanken, daß der beginnende Tag ihr nichts bringen würde, nicht mehr die schmerzliche Bestürzung von früher; im Gegenteil, diese Gewißheit erschien ihr jetzt als etwas Gutes, denn sie mißtraute der Hoffnung und fühlte sich damit gewissermaßen gegen jedes Unglück gefeit. Was konnte ihr noch zustoßen und sie erschüttern? Hatte sie die Quellen ihrer Schwermut nicht ausgeschöpft? Wenn zum Beispiel Maurecourt stürbe, was konnte das am Leben des jungen Mädchens verändern, da es sich, was ihn betraf, keinen Illusionen mehr hingab?
    Wenn Adrienne auf den Zeitpunkt wartete, wo sie mit Madame Legras ausgehen oder ihr im Garten beim Nähen zusehen durfte, gab sie sich Mühe, möglichst viele Beschäftigungen zu finden, und führte Pläne aus, die sie seit langem hegte. Sie wollte die Einrichtung sämtlicher Räume im Haus verändern. Die Salonmöbel hatte sie bereits umgestellt und die bisherige Symmetrie in der Anordnung der Lehnsessel aufgebrochen; indem sie diese an die Wände schob, anstatt sie im Kreis auf dem Teppich stehenzulassen, war die Mitte des Zimmers nun frei, und es wirkte größer. Auch mehrere Bilder hängte sie um. Das Kanapee, auf dem Germaine zu liegen pflegte, wurde in eine Ecke gerückt, zwischen zwei Türen, und sie ersetzte das Leopardenfell durch ein bretonisches Umschlagetuch. Diese kleinen Eingriffe veränderten das Aussehen des Zimmers so sehr, daß Adrienne tat, als finde sie sich nicht mehr zurecht, und ihr Werk lächelnd betrachtete.
    Eines Morgens kam sie auf den Gedanken, in den dritten Stock hinaufzugehen und Germaines Zimmer in Augenschein zu nehmen. Etwas hatte sie davon abgehalten, das schon früher zu tun. Zunächst die dunkle Angst vor einer möglichen Ansteckung. Désirée hatte Anweisung, dieses Zimmer gründlich zu putzen und jeden Tag zu lüften, und alles, was Germaine von ihrer Garderobe zurückgelassen hatte, war schon lange an Bedürftige verteilt worden, doch Adrienne glaubte, je länger sie wartete, desto besser wäre es. Hatte sie nicht ihr ganzes Leben Zeit, dort hinaufzugehen? Und da sie nicht mehr an den Doktor denken wollte, war es zum mindesten unnötig, sich an das einzige Fenster zu stellen, von dem aus sie ihn vielleicht erspähen konnte. An diesem Morgen jedoch fühlte sie sich stärker als sonst, beinahe teilnahmslos. »Vielleicht liebe ich ihn schon weniger«, sagte sie sich mit geheuchelter Freude. Sie gratulierte sich wie zu einem Sieg und dachte, wie glücklich sie erst wäre, wenn es ihr gelänge, sich von dieser Liebe vollkommen zu befreien.
    Sie ging hinauf. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie die Zimmertür öffnete, und ein merkwürdiges Gefühl hielt sie auf der Schwelle zurück. Zum letzten Mal hatte sie ihre Schwester hier an jenem Tag gesehen, als Germaine sie gerufen hatte, um ihr zu sagen, daß sie bald sterben werde. Dieses Zimmer barg mehr als die Gefahr einer Ansteckung, es barg die Erinnerung an eine Todkranke, die lange Jahre sinnlosen Leidens darin zugebracht hatte. Das Bett, die Stühle, das kleine Arzneimittelschränkchen, alles redete in einer deutlichen und furchtbaren Sprache zu ihrer Erinnerung, und ihr kam der Gedanke, daß dieses Zimmer Unglück bringe. Einen Augenblick glaubte sie schon, sie werde, ohne einzutreten, die Tür wieder schließen, aber ihr Zögern dauerte nicht lange. Etwas zog sie unwiderstehlich an das Fenster, dessen Vorhänge abgenommen waren. Sie hielt den Atem an und durchquerte den Raum mit großen Schritten. Ihr Herz schlug heftig,

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