Adrienne Mesurat
Monologen ihrer Nachbarin zu entschuldigen, doch sie glaubte es selbst nicht. Sie hatte Angst vor Madame Legras, fürchtete ihr Lächeln, ihren langen Händedruck und vor allem diese geschwätzige Stimme, die so viele merkwürdige Dinge sagte. Mehrmals hatte Adrienne geglaubt, im nächsten Augenblick ohnmächtig zu werden, wenn sie sie über den Tod ihres Vaters sprechen hörte. Was sie am meisten beunruhigte, war der gelassene und bedächtige Tonfall, den die dicke Dame anschlug, um die bedenklichsten Ansichten vorzubringen. »Wissen Sie«, sagte Madame Legras, ohne aufzuschauen, »wenn mir jemand sagen würde, Ihr armer Vater sei ermordet worden, wäre ich nicht besonders überrascht.« Adrienne gab keine Antwort, aber die Spitzen ihrer Finger, die sie im Schoß verschränkt hielt, wurden eiskalt. Das Verlangen überfiel sie aufzuspringen, zum Bahnhof zu laufen, einen Zug zu nehmen, wie Germaine es getan hatte, und zu fliehen. Statt dessen blieb sie regungslos auf ihrem Stuhl sitzen und starrte auf Madame Legras geschickte Hände, die ein Rosenzweiglein in die Ecke eines Taschentuchs stickten. Nichts konnte Adrienne dazu bringen, vor halb zwölf zu gehen. Sie mußte den quälenden Augenblick abwarten, in dem Madame Legras ihre Handarbeit zusammenrollte und sie selbst mit erstaunter Miene ihre Uhr aus dem Rockbund zog. Erst dann machte sie sich mit unerklärlichem Bedauern auf den Weg, verzweifelt über die Vorstellung, wieder allein in dieser Villa des Charmes zu sein, die sie mehr haßte als je zuvor. Es kam soweit, daß sie sich die Ohren zuhielt, wenn sie den Garten betrat und das Tor hinter sich zuschlug; dieses Quietschen, das sie so gut kannte und das sie an so vieles erinnerte, war ihr unerträglich.
Eines Tages ging sie nicht gleich nach Hause und erwog, in der Stadt zu Mittag zu essen; aber die Furcht, es könnte sich herumsprechen, hielt sie davon ab. Was würde das Dienstmädchen sagen, wenn sie nicht heimkam? Sie war überzeugt, daß Désirée keinerlei Verdacht gegen sie hegte, auch wenn Madame Legras das zu glauben schien, aber sie war fest entschlossen, alles zu tun, um nicht den kleinsten Anlaß für Klatsch und Tratsch zu geben. Aus demselben Grund ging sie nachts nicht aus dem Haus. Sie konnte jemandem begegnen. Es war besser, daheim zu bleiben. Und sie setzte sich im großen Salon neben eine Lampe und schaute sich Bildbände an. Halb auf das runde Tischchen gestützt, lauschte sie dem Geschirrklappern, das aus der Küche herüberdrang, und blätterte zerstreut weiter. Sobald sie jedoch hörte, daß Désirée den hinteren Teil der Wohnung verließ und in den Flur kam, um wegzugehen, fühlte sie sich unwohl. Sie lauerte auf das Geräusch der sich öffnenden Tür und der Schritte, die sich über den Gartenweg entfernten, dann auf den verhaßten Klang des Tors, das sich nur schloß, wenn man es zuschlug. Danach hatte sie den Eindruck, als wachse die Stille um sie herum wie ein Schatten und sie höre in der Tiefe dieser Stille das Gemurmel unzähliger Stimmen. Nun empfand sie es als quälend, die Seiten in ihrem Bildband umzublättern, und sogar das Geräusch ihres eigenen Atems störte sie. Und durch eine seltsame Verzerrung ihres Erinnerungsvermögens sehnte sie sich jetzt beinahe nach der Zeit zurück, da zwei Menschen, die am selben Tischchen saßen, sie zum Kartenspielen zwangen.
II
Drei Wochen waren seit Monsieur Mesurais Tod vergangen. Germaine, die man eiligst benachrichtigt hatte, war nicht zum Begräbnis ihres Vaters nach La Tour-l’Evèque gekommen und hatte den bedenklichen Zustand ihrer Gesundheit als Grund angeführt. Allerdings hatte sie Wert darauf gelegt, eine Abschrift des väterlichen Testaments ausgehändigt zu bekommen, und einen Notar aus Saint-Blaise nach La Tour-l’Evèque entsandt, der den Auftrag hatte, ihre Interessen wahrzunehmen.
Die Testamentseröffnung ergab, daß Monsieur Mesurais kleines Vermögen zu gleichen Teilen an seine beiden Töchter fallen sollte; doch hatte der Verstorbene offenbar nicht damit gerechnet, daß er sterben könnte, bevor seine jüngere Tochter volljährig war, und so mußte ein Vormund bestellt werden. Die einzigen Verwandten von Monsieur Mesurat, eine alte Jungfer aus Rennes und ein Junggeselle, der in Paris lebte, hatten sich vor vielen Jahren mit ihrem Cousin Antoine überworfen und wußten genau, daß sie k einen Sou von ihm erwarten durften. Man hatte ihnen umsonst eine Vorladung geschickt: Wegen nichts und wieder nichts wollten
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