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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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wissen gar nicht, was die Provinz ist. Da muß man schon eine Pariserin sein wie ich, um das zu spüren. Es wird geredet, geredet. Ich beschränke mich ja aufs Zuhören, aber gestern hat eine Mademoiselle Grand… Kennen Sie sie?«
    »Die Kurzwarenhändlerin«, sagte Adrienne und wurde bleich.
    »Ganz richtig. Ich kaufte eine Spule blaues Garn für diese Fahne hier. Mademoiselle Grand bedient mich, wickelt die Spule in Papier, und wissen Sie, was sie dann zu mir sagt?«
    »Nein, Madame.«
    »Bitte, halten Sie die Stange ganz fest, sonst steche ich mich. Sie sagt zu mir: ›Wohnen Sie nicht gegenüber der Villa des Charmes? Da kennen Sie bestimmt Mademoiselle Mesurat. Ihr Vater ist auf so tragische Weise gestorben. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.‹ Natürlich spricht immer noch Mademoiselle Grand, verstehen Sie?«
    »Ja«, hauchte das junge Mädchen.
    »Wohlgemerkt«, fuhr Madame Legras fort, ohne von ihrer Näharbeit aufzublicken, »es steht mir nicht zu, eine Meinung zu äußern. Aber da Sie mich am Tag des Unglücks gerufen haben, darf ich Ihnen doch wohl sagen, was ich davon halte, auch wenn ich vor den anderen schweige. Nun gut, ich finde das alles merkwürdig. Ich denke oft darüber nach. Und außerdem bin ich ein intuitiver Mensch, ich errate vieles. Ihr Vater hätte sich zum Hinuntergehen eine Lampe anzünden müssen.«
    Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Ich sagte also zu Mademoiselle Grand: ›Ja, das kann wohl nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.‹ Aber selbstverständlich wollte ich mich mit dieser Frau auf kein Gespräch über Sie einlassen. Schon allein, weil es Ihnen mißfallen hätte, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Ich wußte es ja, meine Liebste«, sagte Madame Legras zuckersüß.
    Sie nähte ihren Saum zu Ende, ohne noch ein Wort zu verlieren. Die Hände um die Fahnenstange gekrampft, betrachtete Adrienne diesen weißen und fleischigen Nacken unter dem zarten Strohhut, diesen Kopf, der sich so eifrig über die Arbeit neigte. Sie spürte, wie eine stumme Wut in ihr hochstieg. Es kam ihr ungerecht vor, daß Madame Legras ganz nach Belieben alle möglichen Pläne aushecken, in ihrem Gehirn die bösartigsten Gedanken wälzen konnte, ohne daß sie, Adrienne, der Gegenstand ihrer verbrecherischen Überlegungen, irgend etwas davon wußte. Und am liebsten hätte sie sie geschlagen, von ihrem Stuhl gestoßen, alles getan, um sie am Nachdenken zu hindern. »Welches Recht hat sie, mich so auszufragen?« dachte sie. »Wahrscheinlich will sie alles, was ich ihr erzähle, gegen mich verwenden. Ich werde nicht mehr antworten.«
    »So«, sagte Madame Legras und machte einen Knoten in ihren Faden. »Ich bin fertig, geben Sie her, na, geben Sie schon her.«
    Sie riß die Fahne Adrienne fast aus den Händen, die sie mit aller Kraft umklammert hielt und nicht gleich losließ.
    »Sie hängen doch gewiß auch eine Fahne hinaus«, bemerkte Madame Legras, während sie ihre Fahne mit ausgestreckten Armen vor sich hinhielt, um sie zu begutachten.
    »Ja sicher, sicher«, erwiderte Adrienne.
    »Sie wirken auf einmal so traurig, so geistesabwesend. Doch nicht etwa wegen der Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe?«
    »Nein.«
    Madame Legras neigte den Kopf ein wenig zur Seite.
    »Ist es wegen Ihres Liebsten?« fragte sie halblaut. »Sie wollen ja nie von ihm sprechen, das ist ein Fehler. Ich habe mehr Erfahrung als Sie, ich kenne mich in solchen Dingen aus.«
    »Ich habe keinen Liebsten«, sagte Adrienne mit heiserer Stimme.
    »Das ist ein noch größerer Fehler«, fuhr Madame Legras fort und legte die Fahne auf ihren Schoß. »Ein hübsches Mädchen wie Sie…«
    Adrienne zuckte die Schultern.
    »Es nützt nichts, hübsch zu sein«, murmelte sie, »es macht mich auch nicht glücklicher.«
    »Es nützt nichts, wenn man kein Geld hat«, sagte Madame Legras.
    Adrienne wollte antworten, hielt sich aber zurück. Sie bereute schon, das wenige gesagt zu haben, das ihr entschlüpft war. Diese Frau über ihre Liebe sprechen zu hören erschien ihr abscheulich. Mit einemmal kam ihr das offene Fenster des Doktors wieder in den Sinn und die Person, die sie am Vormittag dort zu sehen geglaubt hatte. Wie konnte sie Madame Legras dazu bringen, sie durch ihre Villa zu führen? Bestimmt gab es darin Zimmer, von denen man einen Blick in das weiße Haus werfen konnte. Aber wollte sie dieses Fenster wirklich noch einmal sehen, oder diese unbekannte Person, die sich für einen Augenblick herausgebeugt hatte?

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