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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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jeder sie erkennen würde, wollte sie jedoch meiden. Sie nahm ein Gäßchen, das an der Kirche entlangführte, und blieb unter einer Toreinfahrt stehen, um einen Augenblick zu verschnaufen. Ihre Haut war feucht, sie streifte die Handschuhe ab, die ihr zu warm wurden, und wischte sich mit ihrem Taschentuch über Nase und Wangen. Sie war so schnell gelaufen, daß sie beinahe nicht mehr wußte, wo sie sich befand. Nach ein paar Minuten ging sie weiter, trat aus dem Gäßchen hinaus und stieß auf die Hauptstraße der Stadt. Um diese Zeit war es hier noch recht still. Ladengehilfen öffneten die Geschäfte und blickten der Dame nach, die vorüberging und es so eilig zu haben schien. Sie merkte es, und von blinder Furcht gepackt, kehrte sie um. In ihrem Geist verwirrte sich alles. Das sonst so besonnene Mädchen hatte den Kopf verloren. Adrienne wäre am liebsten weggelaufen, wenn sie nicht befürchtet hätte, damit Verdacht zu erregen, denn tief in ihr steckte noch immer die Angst, etwas zu tun, was seltsam wirken könnte. Als sie die Straße überqueren wollte, wurde sie von einem Wagen überrascht, den sie nicht gehört hatte und der von rechts auf sie zukam. Sie sprang zurück und wäre beinahe gestürzt. In ihrem Schreck flüchtete sie sich auf den vom Fahrdamm entferntesten Teil des Bürgersteigs und ging dicht an den Häusern entlang. Plötzlich hob sie den Blick und las an der Glastür eines Ladens den Namen »Ernestine Grand«.
    Sie blieb stehen. Der Laden war schwarz gestrichen und hatte eine ziemlich verwahrloste Auslage, wo Stricksachen in blassen Farben, Pantoffeln und an Kleiderhaken hängende lange blaue und rote Schürzen ein wahlloses Durcheinander bildeten. Adrienne erinnerte sich an die Kurzwarenhandlung, von der Madame Legras gesprochen hatte. Bestimmt war es diese. Ihr schien, als könnte sie hier auf unerklärliche Weise, etwa so, wie es in einem Traum geschieht, ihrer Nachbarin begegnen. Und außerdem war es eine Möglichkeit, den neugierigen Blicken zu entkommen, die sie auf sich gerichtet glaubte. Sie trat ein.
    Ein trauriges Bimmeln kündigte ihr Hereinkommen an, doch es dauerte noch eine ganze Weile, bevor sich jemand blicken ließ. Es war ein kleines, düsteres Geschäft mit einem langen Ladentisch, der den größten Teil des Raums einnahm, und grüne Schubkästen mit Kupfergriffen bedeckten eine ganze Wand. Ein merkwürdiger Geruch nach Stoff und Moder stieg einem in die Nase. Alle Geräusche von draußen klangen gedämpft, verzerrt, und die Straße, von der man nur durch eine Glasscheibe getrennt war, wirkte unendlich fern.
    Adrienne setzte sich und zog die Handschuhe wieder an. In der tiefen Stille des Ladens hörte sie ihren eigenen Atem, und zugleich erfüllte ein vages Dröhnen ihren Kopf, wie jedesmal, wenn sie sich in einem geschlossenen Raum aufhielt, aber ihr Herz pochte nicht mehr so heftig wie auf der Straße, und sie fühlte sich ruhiger.
    Endlich öffnete sich ganz hinten im Laden eine Tür, und eine Frau kam herein, die ungehalten darüber zu sein schien, so früh am Morgen Kundschaft zu sehen, und flüchtig über den Ladentisch blickte, um sich zu vergewissern, daß nichts herumlag. Sie war eine dürre, hoch aufgeschossene Person, die beim Gehen kein anderes Geräusch verursachte als ein leises Rascheln ihres schwarzen Kleides; sie grüßte und trat, auf der anderen Seite des Ladentisches, vor das junge Mädchen:
    »Mademoiselle?«
    »Ich möchte eine Spule weißen Zwirn«, stieß Adrienne hastig hervor.
    Um ihre Aufregung zu überspielen, zog sie die Handschuhe aus und blickte dann der Kurzwarenhändlerin nach, die lautlos einen Schubkasten herauszog. Adrienne schlang mit aller Kraft ihre Finger auf dem Ladentisch ineinander, wie um sich Mut zu machen. Sie hätte gern etwas gesagt, was Mademoiselle Grand dazu bringen konnte, über Madame Legras zu sprechen, doch ihr fiel nichts ein. Auf einmal hörte sie folgenden Satz über ihre Lippen kommen:
    »Ist Madame Legras gestern hiergewesen?«
    Sie verstummte. Eine schreckliche Sekunde verstrich, dann machte die Kurzwarenhändlerin den Schubkasten wieder zu und sagte im Umdrehen:
    »Sie war vorgestern hier, um Garn zu kaufen.«
    Mademoiselle Grand hatte ein Gesicht mit hageren Zügen, dessen Fleisch abgestorben schien, wie das von Nonnen, die nie ins Freie kommen und den ganzen Tag dieselbe schlechte Luft einatmen. Sie stellte einen Schubkasten, der verschiedenfarbige Spulen enthielt, auf den Ladentisch und beugte sich ein wenig vor.

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