Adrienne Mesurat
am väterlichen Erbe neidete; was sie ärgerte, war vielmehr der Zwang, einmal im Monat an sie denken zu müssen, den Notar aufzusuchen, auf die Post zu gehen und ihren Namen auszusprechen. Sie schrieb dies dem Haß zu, den sie immer gegen Germaine im Herzen getragen hatte, es war jedoch etwas viel Stärkeres und etwas, was sie nicht verstehen konnte, weil sie nicht den Mut besaß, es sich einzugestehen. Zwei Sorgen hatten jetzt Vorrang in ihrem Leben: Sie mußte an den Doktor denken oder sich anstrengen, nicht an ihn zu denken, was nur eine andere Art war, sich mit diesem Mann zu beschäftigen, und sie mußte zuhören, wie Madame Legras vom Tod ihres Vaters sprach und sie mit hinterhältigen Andeutungen beschuldigte, ihn ermordet zu haben. Alles, was sie von ihrer schlecht bezwungenen Liebe und ihrem uneingestandenen Schuldbewußtsein ablenkte, war ihr unerträglich.
Sie ging über die Straße und bedauerte, keine Handschuhe getragen zu haben, als sie diesen Brief las, den die Kranke vielleicht gelesen, den sie womöglich angehaucht hatte.
»Warum lebt sie überhaupt?« fragte sie sich hart. »Was hat sie, um ihr Leben auszufüllen?«
Einen Augenblick später war sie im Garten der Villa Louise. Madame Legras trat aus dem Haus. Sie stieg die Stufen der Außentreppe herab und kam Adrienne entgegen, einen blauen Stab schwenkend, den sie in der linken Hand hielt, während sie mit dem rechten Arm ein in braunes Papier gewickeltes Paket an sich drückte.
»Was ist das?« fragte Adrienne.
»Sie werden es gleich sehen«, antwortete Madame Legras.
Sie reichte ihr den Stab, als sei es eine Hand, und setzte sich unter eine Linde. Das junge Mädchen nahm neben ihr Platz.
»Meine Liebste«, begann Madame Legras und machte sich an der Schnur zu schaffen, mit der ihr Paket verschnürt war, »ich habe Ihnen eine kleine Neuigkeit zu verkünden, die Sie, wie ich hoffe, verdrießen wird…«
»Eine Neuigkeit?«
»Ich gehe fort…«
Sie legte ihre kurzen Hände auf das Paket und sah das junge Mädchen an, um die Wirkung ihrer Worte abzuschätzen. Adrienne senkte den Blick.
»… und komme in drei Tagen wieder«, fügte Madame Legras laut auflachend hinzu. »Mein Mann braucht mich«, fuhr sie mit ernster Miene fort. »Nichts Schlimmes, aber seine Geschäfte nehmen ihn so sehr in Anspruch, nie kann er hierherkommen, und deshalb, Sie verstehen … Habe ich Ihnen erzählt, womit er sich beschäftigt?«
Adrienne schüttelte den Kopf.
»Wolle, Baumwolle, Seide«, verkündete Madame Legras. »Ich sage es, ohne mich zu schämen, ich bin durch und durch bürgerlich. Hier, noch ein Beweis mehr…«
Sie öffnete ihr Paket: es enthielt ein Stück leuchtend blauen Stoffs. Doch Madame Legras erhob sich, und mit einer gewissen Feierlichkeit entrollte sie den gesamten Stoff und hielt ihn mit ausgestreckten Armen hoch: es war eine Fahne, eine Trikolore in Handtuchgröße.
»Aha«, sagte Adrienne.
Das weiße, geschminkte Gesicht über der Fahne kam ihr komisch vor, und sie mußte sich zusammennehmen, um nicht zu lachen.
»Mein Mann hat sie mir für den vierzehnten Juli geschickt. Die andere war schon ganz ausgebleicht. Ich habe sie heruntergerissen und die Fahnenstange behalten«, erklärte Madame Legras. »Seide, feinste Qualität. Fassen Sie ruhig an.«
Adrienne befühlte den Stoff zwischen zwei Fingern.
»Der vierzehnte ist übermorgen«, sagte Madame Legras und setzte sich. »Ich muß die Fahne an die Stange nähen. Wissen Sie, daß mich das rührt? Ja, ich muß Ihnen sagen, ich bin eben nach den Grundsätzen von vor dreißig Jahren erzogen worden. Eine gute Französin, eine gute Christin. Das sage ich nicht Ihretwegen. Aber ich erzählte Ihnen ja von meinem Mann. Sie müssen ihn unbedingt kennenlernen. Würden Sie mir die Stange halten? Ich nähe derweil. Leider gehen seine Geschäfte seit einiger Zeit nicht mehr so gut. Die ausländische Konkurrenz ist furchtbar, in England vor allem. Halten Sie die Stange bitte ganz fest, meine Liebste. Daraus erwachsen uns unzählige Sorgen, Geldsorgen, versteht sich. Danken Sie dem Himmel, daß er Sie vor Geldsorgen bewahrt hat! Sie hatten einen liebevollen Papa, der alles getan hat, um Ihnen eine angenehme Zukunft zu sichern!«
Sie beugte sich über den Stoff und begann zu nähen.
»Ich sprach erst neulich von ihm«, sagte sie wie beiläufig.
»Von wem, Madame?« fragte das junge Mädchen nach einer Sekunde.
»Von Ihrem Papa, natürlich. Sie gehen niemals in die Stadt. Ich wette, Sie
Weitere Kostenlose Bücher