Adrienne Mesurat
Gedankenlos fragte sie:
»Ist es schon lange her, daß Sie diese Villa gekauft haben?«
Madame Legras sah sie an und verzog schmollend den Mund.
»Mein Gott, Sie träumen wohl. Sie wissen doch genau, daß ich letztes Jahr noch nicht hier war. Und außerdem habe ich diese Villa nicht gekauft, sondern nur gemietet. Mein Mann hat sie gemietet.«
Sie legte die Hände über dem Fahnenstoff zusammen und fuhr in etwas kühlerem Ton fort:
»Wenn Sie finden, was ich gesagt habe, sei taktlos, hätten Sie sich eben nicht in die Lage bringen dürfen, mich anhören zu müssen.«
»Ich habe Sie niemals für taktlos gehalten«, antwortete Adrienne und wurde rot.
»Schon gut, wir wollen uns nicht ereifern«, sagte Madame Legras, während sie ihre Fahne zusammenrollte. »Sie hängen an Ihren Geheimnissen, das ist verständlich.«
Und gleich darauf fügte sie hinzu:
»Ich habe keine Geheimnisse, so ist es am einfachsten. Sprechen wir nicht mehr davon.«
Mit einer Handbewegung schien sie etwas vor sich wegzuwischen und stand auf:
»Sie entschuldigen mich, meine Liebste. Ich habe noch meinen Koffer zu packen. Nach dem Tee muß ich zum Tierarzt. Ich habe meinen Hund dort gelassen. Ich fand, er kratzt sich etwas zuviel. Möchten Sie mich begleiten?«
»Vielen Dank«, sagte Adrienne, »aber ich kann nicht.«
»Dann auf Wiedersehen. Und Sie tragen mir auch nichts nach?«
»Ich bitte Sie, warum denn?«
Sie gaben einander die Hand. Adrienne ging nach Hause.
III
Am nächsten Tag wurde Adrienne schon in aller Frühe durch das Rattern eines Wagens, der vor dem Gartentor der Villa Louise hielt, ans Fenster gelockt; dann sah sie Madame Legras aus dem Haus kommen und in dem Gefährt Platz nehmen, das sogleich losfuhr. Der Anblick schnürte ihr das Herz zusammen. Lange nachdem in der Straße wieder Stille eingekehrt war, stand sie noch immer reglos da und starrte auf die Stelle, an der ihre Nachbarin in den Wagen gestiegen war, als wäre soeben etwas Unwiderrufliches geschehen und als könnte sie nicht an das Ausmaß ihres Unglücks glauben. Eine große Leere tat sich in ihr auf. Sie mußte Madame Legras abreisen sehen, um zu begreifen, wie sehr sie die Gesellschaft dieser gräßlichen Frau brauchte. Sie versuchte nicht einmal, sich diesen ungeheuerlichen Widerspruch zu erklären, sondern sie nahm ihn hin, wie man etwas hinnimmt, weil man nicht die Kraft aufbringt, es zu bekämpfen. Was konnte es ihr nützen, Ursprung und Wesen ihrer Hörigkeit zu erkennen, zu erfahren, was sie zwang, Madame Legras tagtäglich zu besuchen? Sie stellte sich lieber keine Fragen. Die seltsame Angst vor sich selbst, die sie in der Todesnacht ihres Vaters empfunden hatte, das Entsetzen vor dem, was sie zu denken und zu tun fähig war, suchte sie immer noch heim. Durch eine Art Zauber, dessen Ursache sie nicht kannte, vermochte einzig das hinterlistige Geschwätz von Madame Legras ihr so etwas wie inneren Frieden zu schenken. Wenn diese Frau fortginge, wie sollte das junge Mädchen dann weiterleben können? Und sie war abgereist. Drei volle Tage mußte Adrienne nun bis zu ihrer Rückkehr warten, drei Tage voll unerträglicher Einsamkeit und einer Stille, in der das Grauen leichtes Spiel habe würde, und dagegen hieß es unaufhörlich ankämpfen, bis die eintönige, flinke Stimme der Madame Legras den unheimlichen Bann wieder brach.
Sie kleidete sich so rasch wie möglich an und beschloß, aus dem Haus zu gehen. In der Nacht hatte es ein heftiges Gewitter gegeben, und die Luft war kühl. Der graue und bedrohliche Himmel schien die Bäume zu berühren. Es war nicht einmal acht Uhr. Für alle Fälle nahm sie einen Regenschirm, und ohne abzuwarten, daß die Köchin ihr den Milchkaffee servierte, ging sie weg.
Auf der Straße kehrte sie dem weißen Haus entschlossen den Rücken. Sie wollte nicht in diese Richtung gehen, wollte vor allem nicht daran denken. Sie wollte müde werden, laufen, bis ihr die Füße weh taten, an nichts mehr denken, über nichts mehr nachsinnen, gehen, durch die Stadt gehen und übers Land, und dann heimkommen und schlafen. Sie ging die Rue Thiers hinauf, bog links ab, folgte der Mauer mit den Glyzinien, die so gut rochen, und setzte ihren Weg geradeaus fort. Drei Minuten später erreichte sie den Hauptplatz der kleinen Stadt. Leute grüßten sie. Sie dankte steif und beschleunigte den Schritt. Es kümmerte sie wenig, ob sie auf ihrem Spaziergang ein Ziel hatte. Wichtig war nur, immer in Bewegung zu sein. Den Markt, wo fast
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