Adrienne Mesurat
sie war zu schnell hinaufgestiegen. Als sie das Fenster geöffnet hatte, sog sie mit aller Kraft die Luft von draußen ein, und während sie sich über die Dachrinne beugte, blickte sie geradeaus. Zwischen den Linden der Villa Louise sah sie Madame Legras mit einer Gartenschere in der Hand an den Blumenbeeten entlanggehen. Dicht hinter ihr lief der Dackel, die Nase auf dem Boden, und schnüffelte an den Steinen. Adrienne verspürte Lust, ihre Nachbarin zu rufen, beherrschte sich aber. Sie beobachtete, wie die dicke Dame mit ruhigen Schritten von einer blühenden Pflanze zur anderen ging, das Gesicht unter einem Strohhut verborgen.
Plötzlich wandte Adrienne den Kopf zur Seite. Wie einst klammerte sie sich an den Rand der Dachrinne und beugte sich so weit wie möglich vor, um das weiße Haus zu sehen. Deshalb war sie heraufgekommen, jetzt wurde es ihr klar, und auf einmal fühlte sie sich trunken vor Glück bei dem Gedanken, diese Freude auszukosten, die sie sich wochenlang versagt hatte. Mit einer Art Gier schaute sie hinüber. Die Sonne schien auf das Dach, und dieses warf das Licht mit blendendem Glanz zurück. Das sah sie als erstes, dann wanderte ihr Blick hinunter und suchte nach dem Fenster, das wie gewöhnlich offenstand. Adrienne hatte den Eindruck, um einen Monat zurückversetzt zu sein. Fast empörte es sie zu sehen, wie wenig die Dinge sich verändert hatten, so als habe sie ein ganz anderes Schauspiel erwartet; und gleich darauf erkannte sie tief in sich auch jene wehmütige Trägheit wieder, die sie vor einem Monat hier, an derselben Stelle verspürt hatte, etwas wie eine Verlangsamung des Lebens in ihrem gesamten Wesen. Ihre Handgelenke schmerzten. Sie beugte sich noch weiter vor und erblickte nun das Innere des Raums, der ihre Neugier so stark erregte und von dem sie annahm, der Doktor habe hier sein Arbeitszimmer eingerichtet. Auf den granatfarbenen Teppich und die Ecke des Sekretärs fiel ein Sonnenstrahl.
Plötzlich richtete sie sich auf und preßte die Hände an den Mund. Jemand war ans Fenster getreten. Offensichtlich nicht der Doktor; eine Sekunde hatte ihr genügt, um das festzustellen. Eine Weile stand sie da, mit dem Rücken zum weißen Haus und den Kopf an den Fensterrahmen gelehnt. Ein Wimmern kam aus ihrer Brust. Sie flüsterte: »Wer ist das? Wer ist das?« und wagte nicht, sich umzudrehen. Ihr war, als entscheide sich das Schicksal ihres ganzen Lebens in dieser Minute, als stehe sie im Begriff, etwas unendlich Wichtiges und Furchtbares zu erfahren, das Glück oder Unglück für sie bedeuten würde. Tiefe Stille lag über der Straße. Die Vögel waren verstummt. Alles schien für immer reglos und still, wie unter der Kraft eines Zaubers. Endlich hielt sie es nicht mehr aus, beugte sich weit vor und stemmte sich mit zitternden Händen auf den Rand der Dachrinne. Das Fenster war leer.
Adrienne fuhr zurück und stöhnte. »Ich habe mich getäuscht«, dachte sie. »Da war niemand.«
Fluchtartig lief sie aus dem Zimmer.
Als sie sich am Nachmittag gerade anschickte, zu Madame Legras zu gehen, brachte ihr der Postbote einen Brief. Sie öffnete ihn und las ihn auf der Straße. Die Oberin des Hospizes, in dem Germaine weilte, schrieb ihr.
Mademoiselle, wir nehmen aufrichtigen Anteil an Ihrem tiefen Schmerz und hoffen, der Gedanke an die göttliche Fürsorge möge Ihnen in diesen schweren Tagen Kraft schenken. Wir hatten, wie vermutlich auch Sie, befürchtet, die traurige Nachricht könnte sich auf den so bedenklichen Zustand Ihrer Schwester fatal auswirken, doch sie scheint sich in alles Leiden zu schicken, das ihr Los in dieser Welt ist. Machen Sie sich also ihretwegen keine Sorgen. Es ist nicht allzu vermessen, wenn ich behaupte, daß es ihr besser geht. Das Klima dieser Gegend…
Adrienne übersprang zehn Zeilen und las am Schluß des Briefes:
… zu schwach, um Ihnen eigenhändig zu schreiben, und bittet Sie, auf ihren Namen die Summe von fünfhundert Franc an die Bank von Saint-Blaise überweisen zu lassen und diese Zahlung monatlich zu erneuern…
Sie knüllte den Brief zusammen und warf ihn in den Rinnstein. Kein einziges Mal hatte sie ihrer Schwester geschrieben, und es war Madame Legras gewesen, die es in die Hand genommen hatte, Germaine vom Tod ihres Vaters zu benachrichtigen. Allein der Gedanke, mit der Kranken neuerlich in Verbindung zu treten, mußte Adriennes Widerwillen erregen; und mehr noch die Aussicht, etwas Amtliches für sie zu erledigen. Nicht weil sie ihr den Anteil
Weitere Kostenlose Bücher