Adrienne Mesurat
Störung lesen.
190
»Sie wünschen?«
»An wen muß ich mich wenden, um eine Droschke zu bekommen?«
»Wollen Sie zum Bahnhof? Warten Sie bis vier Uhr. Dann fahren alle Wagen zum Zug aus Dreux.«
»Ich brauche aber jetzt einen«, erwiderte Adrienne. »An wen muß ich mich wenden?«
Der Mann stemmte eine Faust auf eine marmorne Tischplatte.
»Der Fuhrunternehmer bin ich, Madame«, sagte er ungeduldig. »Vor vier Uhr geht kein Zug nach Paris.«
»Ich will nicht nach Paris, ich will nach Dreux«, entgegnete Adrienne, die sich allmählich ereiferte.
Das hatte sie ganz plötzlich beschlossen und fügte hinzu:
»Gegen zwei Uhr muß es einen Zug dorthin geben.«
Er blickte sie kurz an, machte eine wegwerfende Handbewegung und kehrte ihr den Rücken zu.
»So eine Fahrt lohnt sich nicht«, brummte er im Weggehen. »Mir muß auch jemand die Rückfahrt bezahlen.«
Sie griff wieder nach ihrem Koffer, den sie auf einen Tisch gestellt hatte und an dessen schwarzem Leder Wasser herabrann. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Dieser lange Weg, den sie nun zu Fuß zurücklegen sollte, schien ihr eine allzu harte Prüfung, aber sie mußte sich wohl darein fügen. Am besten war es, sich schnell aufzumachen. Sie trat hinaus und lief fast über den Platz, denn sie hatte bemerkt, daß sie ihre Müdigkeit um so weniger spürte, je schneller sie ging.
Der Regen hörte auf, als Adrienne das Dorf hinter sich ließ und die Landstraße erreichte. Ein kühler Wind blies, aber das regenschwere Getreide bewegte sich nicht; nur die kurzen Gräser am Wegesrand furchten und zerteilten sich im Wind, wie Haar, durch das unsichtbare Hände glitten. Tiefe Stille lag über der verlassenen Landschaft. Adrienne schritt einher, entschlossen, den Kopf nicht zu heben, um die entmutigende Länge dieser Straße nicht sehen zu müssen. Das Klappern ihrer Absätze auf den Steinen beschäftigte sie. Manchmal wechselte sie den Koffer von einer Hand in die andere, doch schon bald ließen ihre Grübeleien sie Bewegung und Müdigkeit vergessen, und viel früher, als sie es für möglich gehalten hätte, lag der Bahnhof vor ihr.
Vor drei Uhr fuhr kein Zug nach Dreux, und sie mußte in einer kleinen Schenke unweit des Bahnhofs warten. Es war ein ganz neues Häuschen, wo in der kurzen Zeit noch nichts hatte schmutzig werden können. Das Billard roch nach Lack. Die marmornen Tischplatten glänzten noch. Ein Postkartenständer auf einem der Tische drehte sich quietschend um seine Achse, wenn man ihn mit dem Finger anstieß. Nachdem Adrienne eine Tasse Kaffee bestellt hatte, setzte sie sich in die Nähe der Karten und nahm ihren Hut ab, von dem sie unter der Bank die Tropfen abschüttelte, sobald sie allein war. Kopfschmerzen hämmerten bald in ihren Schläfen, bald in der Stirn, wie ein hin und her flatternder Vogel. Ihr war heiß in den nassen Kleidern. Mehrmals überlief sie ein Frösteln. Um sich abzulenken, sah sie sich die Postkarten an und mußte feststellen, wie falsch das Bild war, das sie von Montfort gaben. Man konnte sich nichts Lieblicheres vorstellen als diese alten, von Bäumen überwölbten Gassen. Und die Kirche, die ihr im Regen graugrün und unheimlich erschienen war, wie unschuldig sie hier aussah! Neben dem Drehständer lag eine Schreibunterlage samt Tintenfäßchen und Feder. Sie wählte eine Ansicht der Kirche, und ohne zu zögern, als führe sie eine selbstverständliche und fast unbewußte Bewegung aus, setzte sie die Adresse des Doktors auf die Rückseite der Karte. Sie schrieb diesen Namen zum ersten Mal, und als sie mit der Adresse fertig war, hielt sie inné, erstaunt über das, was sie las.
Ihr kam der Gedanke, dem Doktor zu schreiben, ihm diese Karte zu schicken, ohne sie jedoch mit einer Unterschrift zu versehen. Auf diese Weise könnte sie ihm alles mögliche sagen. Nie würde er erfahren, woher sie stammte. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht! Sie konnte ihm sagen, daß sie ihn liebte, sich von der Last befreien, an der sie erstickte.
Als die Kellnerin ihr die Tasse Kaffee brachte, bat sie um einen Umschlag und begann sofort zu schreiben:
Ich liebe Sie, und Sie wissen nichts davon, doch –wenn Sie wüßten, was ich Ihretwegen gelitten habe, so hätten Sie, glaube ich, Mitleid mit mir.
Sie brach ab. Diese Worte gaben nur schlecht wieder, was sie empfand, und das überraschte sie, denn sie hatte gemeint, ein so klares Gefühl gleich beim ersten Versuch richtig ausdrücken zu können. Sie fuhr fort:
Ich bin so
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