Adrienne Mesurat
Adrienne einen langgestreckten Speisesaal, der in abendliches Halbdunkel getaucht war, dennoch konnte sie die kleinen, weißgedeckten Tische genau erkennen, die um den riesigen ovalen Tisch für durchreisende Gäste angeordnet waren. Es war, als sage etwas zu ihr: »Dein Platz ist hier.« Sie fragte nach einem Zimmer.
Die dicke Frau bellte eine Zahl und hielt den Schlüssel einem Burschen hin, der Adriennes Koffer nahm und zu einer Treppe lief. Adrienne folgte ihm. Sie stiegen zwei Stockwerke hinauf, gingen einen Flur entlang und blieben vor einer Tür stehen, die der Bursche aufschloß.
»So«, sagte er, als er den Koffer am Fußende des Bettes abstellte.
Adrienne mußte sich überwinden hineinzugehen. Dieses schmale, dunkelrot tapezierte Zimmer kam ihr grauenhaft vor. Als sie über die Schwelle trat, fiel ihr, ohne daß sie gewußt hätte warum, das Gesicht des Kindes ein, das sie am Fenster des Doktors gesehen hatte, ein viel zu bleiches, fast weißes Gesicht, und sie hatte das rätselhafte Gefühl, dieses Kind trete mit ihr in das Zimmer.
Als der Bursche die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging sie in den hinteren Teil des Zimmers und blieb hier stehen, die Hände auf einen kleinen Tisch unter dem Fenster gestützt. Sie konnte nur die Dächer der gegenüberliegenden Häuser sehen und einen farblosen Himmel, der von Minute zu Minute finsterer wurde. Der Anblick schnürte ihr das Herz zusammen, und sie spürte Tränen aufsteigen, aber sie bekam sich wieder in die Gewalt. »Ich darf mich nicht gehen lassen«, murmelte sie. Unter ihren Fingern fühlte sie den weichen Plüsch der Tischdecke; diese Berührung war ihr unangenehm, und sie zog die Hände zurück, als hätten sie auf etwas Schmutzigem gelegen.
Sie setzte sich in einen Sessel mit runder Rückenlehne und betrachtete die Möbel ihres Zimmers; sie waren überaus schlicht. Ein großes, schwarzgestrichenes Eisenbett, auf dem ein rotes Plumeau lag, nahm den meisten Platz ein; in einer anderen Ecke, neben der Tür, warf ein kleiner Spiegelschrank, wie sie von den Warenhäusern zu Tausenden hergestellt werden, das armselige Bild einer rosa und rot gestreiften Wand und einer Waschschüssel auf einem eisernen Dreifuß zurück. Das war alles. Teppich und Vorhänge verströmten leichten Staubgeruch. Adrienne stand auf; sie wollte sich von der Schäbigkeit und Schwermut dieses Zimmers nicht anstecken lassen. Andererseits war sie müde und hatte nicht mehr die Kraft, sich ein besseres zu suchen. Fünf Uhr war schon vorbei. Nachdem sie einen Augenblick überlegt hatte, öffnete sie das Fenster einen Spalt, zog ihre Stiefeletten aus und legte sich auf das Bett, um sich bis zum Abendessen ein wenig auszuruhen.
Sie war unter das Plumeau geschlüpft und versuchte zu schlafen, aber ihre Kopfschmerzen hielten sie wach. Seit einigen Minuten ließ ein Gedanke ihr keine Ruhe, ein verrückter Gedanke, den sie schon den ganzen Nachmittag mit sich herumgetragen hatte und der nun endlich in ihrem Gehirn klar zutage trat. Warum war ihr so heiß? War das Fieber? Ihre Wange glühte. Auf der Straße hatte sie gefröstelt, weil es zu kühl gewesen war, aber woher kam es, daß sie unter diesem schweren Federbett so zitterte?
»Ach was«, sagte sie halblaut, um einen Gedanken zu verjagen, der sie quälte, aber es gelang ihr nicht. Je mehr sie sich anstrengte, ihn loszuwerden, desto stärker fühlte sie eine gräßliche Angst in sich wachsen. Sie schloß die Augen, verschränkte unter dem Plumeau die Hände und bemühte sich, an etwas anderes zu denken, aber ihre Vorstellungskraft gehorchte ihr nicht mehr und zog sie wider Willen fort in einen Bereich, vor dem sie sich fürchtete. Plötzlich drehte Adrienne sich um, vergrub ihr Gesicht im Kissen und preßte die Hände an die Ohren. Zu viele Erinnerungen stürmten auf sie ein, es nahm ihr fast den Atem. Sie hätte sich gern in einem tiefen Schlaf aufgelöst, ein paar Stunden, vielleicht sogar Tage jedes Gefühl für sich selbst verloren, um ein Bild abzuschütteln, das sie seit dem Mittagessen verfolgte und sie nun endlich eingeholt, von ihr Besitz ergriffen hatte.
Sie sah ihre Schwester vor sich, am Morgen ihrer Flucht. Unter einem viel zu großen Hut, der nicht richtig zu sitzen schien, glühte Germaines Gesicht fieberrot. Ihre dunkel umrandeten Augen glänzten, als stünden Tränen in ihnen. Obwohl man genau sah, daß sie trocken waren. Aber waren sie es wirklich? Würde Germaine nicht gleich den Kopf ein wenig zur Seite neigen
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