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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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unglücklich, daß dieser Umstand allein Sie zwingen müßte, mich zu lieben.
    Aber dieser Gedanke kam ihr falsch vor, noch ehe sie ihn zu Ende geschrieben hatte, und sie murmelte: »Warum?«
    »Macht nichts«, antwortete sie sich im Geiste, »er wird nie erfahren, wer ihm diese Karte geschrieben hat.«
    Ich liebe Sie, fügte sie noch hinzu, das ist alles, was ich Ihnen schreiben kann, aber mein Herz ist erfüllt von Ihnen, und ich höre nicht auf, an Sie zu denken und zu weinen.
    Und sie weinte tatsächlich, während sie diese letzten Worte niederschrieb.
    Sie nahm den Umschlag, den ihr die Kellnerin gab, steckte die Karte hinein und setzte die Adresse des Doktors darauf; dann trank sie ihren Kaffee und wartete auf den Zug.
    Dreux ist eine kleine Handelsstadt, in der die wichtigsten Märkte der Gegend abgehalten werden. Als Adrienne die Bahnhofsallee hinuntergegangen und vor dem Rathaus angekommen war, mußte sie sich zwischen allerlei Wagen hindurchschlängeln, die die Straße verstopften und auch einen Teil des Platzes verstellten. Fuhrleute in Arbeitskitteln redeten miteinander und bildeten kleine Gruppen rings um die Kälber und Schweine, deren Schicksal sich in diesen endlosen Verhandlungen entschied. Alle Bürgersteige waren von Bäuerinnen in Besitz genommen, die den Vorübergehenden ihr Geflügel feilboten, während die Mitte des Platzes, trotz Schlamm und brauner Wasserpfützen, die der durchtränkte Boden nicht mehr aufsaugen konnte, von Kurzwaren- und Gemüsehändlern bevölkert war. Eine gleichgültige Menschenmenge schlenderte zwischen den Verkaufsständen umher, bedrängt von den ewig gleichen Rufen, die sie nicht zu hören schien.
    Adrienne hatte keine Eile, den Platz zu überqueren. Es gefiel ihr, von diesen Leuten gestreift und geschubst zu werden, die sie nie zuvor gesehen hatte und die sie zwangen, ihnen zu folgen, mit ihnen über die aufgeweichte Erde zu gehen, als gehöre sie plötzlich zu einer feierlichen Prozession, verliere sich darin, vergesse ihre ganzen Sorgen und alles, was sie von den anderen unterschied, um so zu werden wie diese Männer und Frauen mit ihren verschlossenen Gesichtern. Sie spürte auf ihren eigenen Zügen den finsteren und zugleich mißtrauischen Ausdruck, dem sie hier überall begegnete, und ohne sich erklären zu können warum, besänftigte sie diese Empfindung.
    Unversehens war sie um ein wuchtiges, mit Statuen geschmücktes Gebäude herumgegangen, das sie für eine Kirche hielt. Dann bog sie in eine Gasse ein und folgte ihr, vom lärmenden Marktgetümmel noch ganz benommen, blickte nach rechts und nach links zu den Läden, mit einer Art gekünsteltem Interesse, das sie in Gedanken sagen ließ: »Sieh mal, ein Uhrengeschäft; eine Bäckerei«, als fühle sie sich verpflichtet, ihre Reise zu nutzen, indem sie alles aufmerksam betrachtete und sich bildete.
    An diesem sonnenlosen Spätnachmittag wirkten die Häuser der Hauptstraße griesgrämig mit ihren Fenstern, deren Vorhänge zurückgezogen waren, ängstlich darum bemüht, auch noch die letzten Strahlen eines Lichts hereinzulassen, das nichts kostete. An fast allen Türen nannte ein kleines Metallschild in zarten Buchstaben einen Namen, der auf der Schwelle gegen fremde Eindringlinge Wache zu halten schien. Die steilen Dächer reichten tief bis zu den Fenstern des ersten Stockwerks herab, wie ein Hut, dessen Krempe man ins Gesicht zieht, um nicht erkannt zu werden. Auf diesen Häusern lag derselbe Ausdruck von Mißtrauen wie auf den Gesichtern, die Adrienne kurz zuvor gesehen hatte. Sie spürte es und ging schneller. Um nichts in der Welt hätte sie jemanden nach einem Hotel gefragt, lieber suchte sie auf gut Glück, auch wenn sie damit in den Augen der Vorübergehenden stumme, beinahe feindselige Fragen hervorrief.
    Ganz oben in der Straße fand sie eines. Das Haus wirkte ärmer, obwohl es größer war als seine Nachbarn, und durch die weit offenstehende Eingangstür ging alle Würde verloren. Sie warf einen Blick auf die Fassade, wo Buchstaben von aufdringlicher Größe den Namen des Hotels verkündeten und viel zu viele, viel zu schmale Fenster dem ganzen Bauwerk ein zerbrechliches Aussehen verliehen. Sie trat ein. Eine blaue Flamme beleuchtete nur spärlich den langen Korridor, dem sie bis zu einem Empfangsbüro folgte, wo eine dicke Frau neben einer Lampe Zeitung las. Dem jungen Mädchen war, als habe es sich in ein Labyrinth gewagt, aus dem es nicht mehr herausfinden würde. Durch eine halboffene Tür sah

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