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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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und weinend die Arme ausbreiten? Dann würde Adrienne zurückweichen, um zu verhindern, daß diese Kranke sie berührte und nah an ihrem Gesicht atmete.
    Und auf einmal kamen die Worte, die sie schon so lange in sich verschlossen hielt, über ihre Lippen, brachen mit einem Schluchzen hervor: »Ich habe mir Germaines Krankheit geholt!« Sie krümmte sich in ihrem Bett, wälzte sich auf den Rücken und drückte die Fäuste gegen den Mund. Auf dem Kissen warf sie den Kopf hin und her und stieß leise Schreie aus, die sie vergeblich in ihrem Taschentuch zu ersticken suchte.
    Sie sprang aus dem Bett und lief zum Schrank. Ihre Wangen waren rot, und die zerzauste Frisur ließ ihr Gesicht noch erschrockener aussehen. Tränen hingen an ihren Wimpern. Einen Augenblick betrachtete sie sich im Spiegel, dann ging sie ans Fenster. Es war jetzt viel dunkler, aber noch in keinem einzigen Laden brannte Licht. Leute kamen in kleinen Gruppen vom Markt zurück, ohne ein Wort miteinander zu wechseln; ein Echo in dieser Straße verstärkte das eintönige Stampfen ihrer derben Schuhe auf dem Pflaster. Mit einem Ruck riß sie das Fenster auf und beugte sich hinaus. Eine gräßliche Trostlosigkeit lastete auf dieser Stadt; aber sie konnte nicht fliehen, sie saß in der Falle, mußte in Dreux bleiben, eine lange Nacht hier zubringen. Warum hatte sie La Tour-1'Evêque nur verlassen? Doch ihr schien, sie habe diese Reise wider ihren eigenen Willen gemacht und etwas Allmächtiges habe sie dazu gezwungen.
    Als sie eine Hand an ihrem Rock herabgleiten ließ, spürte sie, daß ihre Kleider feucht waren. In ihrer Kopflosigkeit hatte sie nicht daran gedacht. Ihre Jacke, die sie nicht ausgezogen hatte, war an Schultern und Ärmeln naß. Sie befühlte ihre Füße; sie waren eiskalt. Ihr kam der Gedanke, sich ganz auszuziehen, sich mit einem Handtuch abzureiben und wieder ins Bett zu kriechen, aber die Aussicht, bis zum nächsten Tag in diesem Zimmer eingesperrt zu bleiben, machte ihr angst. Sie beschloß, doch lieber hinauszugehen, und sich bei einem Apotheker Medikamente zu kaufen. Dieser Vorsatz beruhigte sie; zumindest würde sie mit jemandem sprechen und ein wenig ihr Herz erleichtern können.
    Sie stopfte ein wenig Papier in ihre Stiefeletten, bevor sie sie anzog, denn sie waren durchnäßt, und verließ das Hotel.
    Es war nicht so kalt, wie sie geglaubt hatte, und die Bürgersteige waren bereits trocken. Nachdem sie eine Weile die Hauptstraße entlanggegangen war, fand sie eine Apotheke. Ohne Zögern öffnete sie die Tür. Ihre Schüchternheit unterlag dem Wunsch, sich beschwichtigen zu lassen, gesund zu werden, wenn das noch möglich war. Sie durfte keine Sekunde verlieren, aber sobald sie vor dem Apotheker stand, einem alten Mann, wußte sie nicht mehr, was sie ihm sagen wollte. Wie sollte sie ihm ihre Ängste erklären? Er würde sie an einen Arzt verweisen. Deshalb sagte sie nur, sie habe eine Erkältung, und bereute diese Worte, noch während sie sie aussprach. Warum nicht die Wahrheit sagen? Diese Lüge würde sie vielleicht ins Verderben stürzen.
    »Glauben Sie, daß es etwas Schlimmes ist?«, fragte sie mit dröhnendem Kopf.
    Er sah sie an, als ob sie verrückt wäre.
    »Etwas Schlimmes?« wiederholte er. »Seit wann haben Sie das denn?«
    Sie erklärte ihm, daß sie seit Mittag Fieber habe. Er senkte den Kopf und verschwand hinter einem großen Möbelstück voller Schachteln und Flaschen. Eine Weile hörte sie, wie er Gläser öffnete und Gewichte auf eine Waage warf. Er war ein kleiner Mann, bärtig und vom Alter gebeugt, der alle seine Bewegungen mit nervtötender Genauigkeit ausführte. Sie setzte sich, stand wieder auf und sah ihm zwischen den Flaschen hindurch zu. Auf ein kleines Blatt Papier hatte er ein Häufchen weißes Pulver geschüttet, das er nun mit beflissener Langsamkeit auf eine Waagschale rieseln ließ.
    »Wahrscheinlich ist es nichts Ernstes«, sagte sie mit einer Stimme, die vor Aufregung leicht verändert war.
    Er antwortete nicht gleich.
    »Ich werde Ihnen einen Hustensaft geben«, sagte er, als er das Pulver abgewogen hatte.
    Wieder vergingen ein paar Sekunden. Er machte ein Briefchen zurecht, klebte es zu und schrieb eine unleserliche Verordnung darauf. Dann griff er nach einer johannisbeerroten Flasche und betrachtete prüfend das Etikett.
    »Sie glauben also, daß es nicht lange dauern wird?« fragte Adrienne und bemühte sich, gleichgültig zu wirken.
    Er hatte eine Hand auf die Flasche gelegt und blickte

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