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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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mißtrauisch zu Adrienne; offenbar fürchtete er, sie könnte es sich anders überlegen.
    »Das hängt davon ab, wie genau Sie es mit der Behandlung nehmen«, sagte er. »Solche Erkrankungen muß man gleich am Anfang bekämpfen.«
    »Aber ich tue ja rechtzeitig etwas dagegen«, erwiderte Adrienne lachend, als wolle sie sich für ihre Ängstlichkeit entschuldigen, die ihm vielleicht kindisch erschien.
    »Fürchten Sie denn, es könnte etwas anderes sein als eine Erkältung? Waren Sie beim Arzt?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ach, wissen Sie, ich bin gar nicht so krank.«
    Die Worte klangen in ihren Ohren wie Totengeläut: sie hatte sie zu oft aus Germaines Mund gehört. Sie nahm dem Apotheker das Fläschchen aus der Hand und fragte nach dem Preis.
    »Vier Franc«, sagte er.
    Und als er Adriennes überraschte Miene sah, fügte er sofort hinzu:
    »Es gibt keine große Krankheit ohne kleinen Anfang. Was Sie auf der einen Seite ausgeben, gewinnen Sie auf der anderen. Mit diesem Saft und diesem Pulver können Sie ganz beruhigt sein.«
    Das hatte sie hören wollen. Sie bezahlte die Medikamente und ging.
    Schon seit einigen Minuten war sie mit dem Abendessen fertig, blieb aber an dem kleinen Tisch neben dem Fenster sitzen, den man ihr zugewiesen hatte. Sie konnte sich nicht entschließen, aufzustehen und durch die langen, schmalen Korridore in ihr Zimmer hinaufzugehen. Schon vor dem Essen hatte ihr die Kraft dazu gefehlt, und so hatte sie eine Stunde in einem schlecht beleuchteten Aufenthaltsraum verbracht, wo Leute hereinkamen, sie neugierig ansahen und wieder gingen, nachdem sie in dem Zeitschriftenhaufen gewühlt hatten, der auf einem Tisch aus nachgemachtem Ebenholz herumlag.
    Sie hatte Hustensaft und Pulver genommen und fühlte sich besser. Die Worte des Apothekers hatten ihre Befürchtungen ein wenig besänftigt, aber die Einsamkeit, in der sie seit dem Morgen gelebt hatte, zermürbte sie. Immer wieder ging ihr die gleiche Frage durch den Kopf. Warum war sie hier? Was hatte sie damit gewonnen, daß sie aus La Tour-1'Evêque weggelaufen war?
    Die Gäste verließen einer nach dem anderen den Speisesaal. Ein junger Mann mit Zwicker, der seine Mahlzeit unweit von ihr eingenommen hatte, grüßte sie beim Hinausgehen mit einem leichten Nicken. Sie dankte. Sie hätte gern mit jemandem gesprochen, sogar mit dem Kellner, der sie bediente und mitunter zu ihr herübersah, als wolle er ihr zu verstehen geben, es sei spät und sie solle gehen, ja, jetzt sogar mit dem Arbeiter aus Montfort.
    Endlich stand sie auf und ging zur Tür, als ihr der Gedanke kam, sie könnte noch ein wenig flanieren. Seit einer Stunde regnete es nicht mehr, und ihre Kleider waren getrocknet. Auf diese Weise würde sie die verhaßte Minute, in der sie ihr Zimmer aufsuchen mußte, zumindest ein wenig hinausschieben. Sie zog ihre Handschuhe an, hinterlegte Fläschchen und Pulver im Büro und verließ das Hotel.
    Draußen freute sie sich über den Einfall, noch einen Spaziergang zu machen. Es war nicht einmal neun Uhr, und die Nacht war herrlich. Die Straße war überflutet von jenem eigenartigen Licht, das der Mond ausstrahlt, wenn er im Zenit steht: viel zu weiß, beinahe grün. Keine einzige Wolke verdunkelte den Himmel, und als müsse dieses Schauspiel der Erde Ehrfurcht einflößen, war die kleine Stadt in tiefe Stille getaucht.
    Adrienne ging die Straße hinunter, ohne jemandem zu begegnen. Auf dem Marktplatz angelangt, blieb sie ergriffen stehen, als sie sah, wie sehr die nächtliche Stunde diesen Ort verwandelt hatte, der ihr vorher so öde und häßlich erschienen war. Die Verkaufsbuden der Kurzwaren- und Gemüsehändler waren weggeschafft, die Wagen davongefahren. Der Platz war leer, bedeckt mit großen Wasserlachen, über die der Mond langsam dahinwanderte. Im Norden begrenzte ein modernes Gebäude den Markt, dann bildeten kleine Häuser und Bäume eine Art Gürtel bis zu dem Bauwerk, das Adrienne wegen seines Skulpturenschmucks für eine Kirche gehalten hatte, das jedoch nur der Überrest eines alten Rathauses war; es glich einem Bergfried, den ein Kegeldach krönte, und gab diesem Platz jetzt im Mondlicht ein romantisches Aussehen, das Adrienne tief beeindruckte.
    Die Schönheit des Ortes nahm sie gefangen und schenkte ihr einen Augenblick des Friedens, in dem sie ihre Sorgen vergaß. Eine Minute lang verharrte sie reglos, um die wundervolle Stille der Nacht nicht durch das Geräusch ihrer Schritte zu stören. Und in einer plötzlichen

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