Adrienne Mesurat
Selbstbesinnung dachte sie an gewisse Tage ihrer Kindheit zurück. Es hatte Stunden gegeben, in denen sie glücklich gewesen war, ohne sich dessen bewußt zu sein, und sie hatte erst bis zu diesem Moment ihres Lebens warten müssen, um es zu erfahren; ihr Gedächtnis hatte sie, vor diesem verfallenen, mondbeschienenen Turm, erst an hundert vergessene Dinge erinnern müssen, an Spaziergänge über Wiesen und Felder oder an Gespräche mit ihren Schulkameradinnen im Garten von Sainte-Cécile. Diese Erinnerungen stürmten kunterbunt und so unvermittelt auf sie ein, daß es sie bis ins Innerste erschütterte, und an diesem Abend fühlte sie sich so schwach, daß schon eine Kleinigkeit sie zu rühren vermochte. Warum kannte sie dieses Glück nicht mehr, das anderen so verschwenderisch zuteil wurde? Und sie spürte ein schmerzliches Verlangen nach diesem Etwas, das sie nicht mehr besaß und das die Erinnerung so schön und begehrenswert machte.
Sie stieß einen Seufzer aus und ging ein paar Schritte auf dem Bürgersteig, der um den Platz führte. Es schlug neun, zuerst vom Rathaus, dann von der Kirche her. In der Ferne bellten Hunde. Sie blieb stehen, hob den Kopf und blickte zu den Sternen empor. Es waren so viele, selbst wenn sie sich nur einen kleinen Ausschnitt des Himmels heraussuchte, konnte sie die Gestirne nicht zählen. Diese Myriaden von Punkten zitterten vor ihren Augen wie Unmengen winziger weißer Blüten auf der Oberfläche eines tiefschwarzen Gewässers. Sie mußte an ein Lied denken, das sie in der Schule gesungen hatten:
… der Himmel sternbesät…
Bei dem Wort sternbesät mußte die Stimme plötzlich hoch hinauf springen, und diese drei so schwer zu erreichenden, so fernen Töne drückten eine Art Sehnsucht aus, so süß, daß ihr die Erinnerung daran das Herz zerriß. Sie preßte die Hände auf die Augen und weinte.
Nach einer Weile setzte sie ihren Weg fort und bog in eine Straße, die auf den Platz mündete und die sie für die Hauptstraße hielt. Sie erkannte ihren Irrtum bald. Die Straße, die sie eingeschlagen hatte, führte aus der Stadt hinaus. Sie kehrte um, nahm eine andere Gasse, an deren Ende sie die Umrisse des mächtigen Turms aufragen sah, und um sich nicht zu verlaufen, beschloß sie, noch einmal auf den Platz hinunterzugehen, von wo aus sie leichter zurückfinden würde.
Sie schritt langsam einher, denn es drängte sie nicht, in ihr Zimmer zu kommen, und als sie an einem Café vorüberging, trat ein Arbeiter heraus. Es war ein junger Mann. Sie hatte Zeit, sein Gesicht zu sehen, das von einem fahlen Licht hell beschienen wurde, seine Augen mit dem funkelnden Weiß, die bartlosen, etwas hageren Wangen. Als er sie sah, blieb er stehen und blickte sie an, die Hände in den Taschen vergraben. Sie überquerte sogleich die Straße und beschleunigte ein wenig ihren Schritt, hörte jedoch, daß er hinter ihr herkam. Auf dem Pflaster war das Geräusch seiner Füße, die in Leinenschuhen steckten, kaum zu vernehmen; er ging schnell. Weil er nichts sagte, bekam sie Angst; hätte er eine Beleidigung oder Drohung ausgestoßen, dann wäre sie, wie ihr schien, beruhigt gewesen. Für einen Augenblick kam sie auf den Gedanken, um Hilfe zu rufen, aber die Furcht, sich lächerlich zu machen, hinderte sie daran. Sie wagte auch nicht zu laufen; das konnte den Mann vielleicht zu größerer Dreistigkeit verleiten. Sie beeilte sich, machte große Schritte, und anstatt geradeaus bis auf den Platz zu gehen, bog sie in die erstbeste Gasse zu ihrer Rechten.
Hier holte er sie ein. Schroff wandte sie sich um und keuchte mit dem Rücken zur Hausmauer: »Verschwinden Sie!« Doch er blieb bewegungslos vor ihr stehen. Seine schief auf dem Kopf sitzende Mütze ließ das schwarze, metallisch glänzende Haar hervorschauen. Seine Gesichtszüge waren scharf geschnitten, die Augen, soweit man das beurteilen konnte, schwarz. Eine rote Krawatte flatterte lose um seinen Hals und unterstrich dessen Blässe. Er lachte leise.
»Wovor haben Sie Angst?« fragte er.
Adriennes Hand krampfte sich um den Regenschirm. Sie erwiderte:
»Lassen Sie mich in Ruhe, oder ich schreie.«
Der junge Mann blickte sie eine Sekunde lang an, dann zuckte er die Schultern.
»Ich wollte Ihnen nichts tun«, sagte er.
Und er ging weg. Sie hörte, wie er sich, einen modischen Walzer pfeifend, entfernte. Zunächst war sie froh, sich so gut aus der Affäre gezogen zu haben, aber plötzlich überfiel sie maßloses Bedauern. Jemand war in ihrer
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