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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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zuvor hatte sie ein solches Bedürfnis zu schlafen verspürt wie an diesem Abend. Die kleinste Bewegung kostete sie Überwindung, aber sie war dankbar für diese Erschöpfung, durch die sich alles in ihrem Gehirn verwirrte; sie wäre nicht imstande gewesen, auch nur einen einzigen verständlichen Satz zu bilden.
    Fast augenblicklich fiel sie in tiefsten Schlaf. Sie hatte sich auf das Plumeau gelegt, das sich wie runde, reglose Wellen um ihren Körper bauschte. Als ihr Kopf auf das Kissen gesunken war, hatte er den Hut nach hinten geschoben. Die Beine hatte sie angezogen, die Arme lagen ausgestreckt und die Hände übereinander. Alles an ihrer Gestalt zeugte von einem Zustand völliger Ermattung. Sie atmete mühsam; ihr Gesicht war halb im Kissen vergraben, doch manchmal hob sich ihre Brust stärker, in einer Anstrengung der Lungen, die nicht mehr genügend Luft bekamen.
    Das Mondlicht fiel ungehindert durchs Fenster, dessen Läden niemand geschlossen hatte, es zeichnete ans Fußende von Adriennes Bett ein längliches Rechteck und gab Teppich und Parkett jene seltsame Schattierung, die aus toten Farben zu bestehen scheint. Kein Laut von der Straße oder aus dem Hotel drang herein.
    Adrienne schlief seit einer halben Stunde, als sie Germaine ins Zimmer treten sah. Sie hatte die Tür nicht aufgehen hören, aber sie sah ihre Schwester ganz nah an ihrem Bett vorbeikommen. Germaine blickte sie nicht an. Sie ging mit entschlossenem Schritt zum Kamin, wo Adrienne die Medikamente hingestellt hatte. Die alte Jungfer griff nach dem Fläschchen und betrachtete es prüfend. Wie gewöhnlich war sie in Schwarz gekleidet und trug keinen Hut. Auf ihren Zügen lag etwas Rätselhaftes, das einem Lächeln glich, doch es war mehr der Gesichtsausdruck eines Menschen, der einen vertrauten Gegenstand wiedererkennt. Sie hielt das Hustensaftfläschchen mit beiden Händen fest und schien bald das Etikett zu lesen, bald die Farbe des Inhalts zu begutachten. Nach einer Weile nickte sie zögernd und blickte zum ersten Mal in Adriennes Richtung, aber das junge Mädchen konnte dieses Gesicht, das ihm zugewandt war, nicht gut sehen, weil Germaine mit dem Rücken gegen das Licht stand. Einige Sekunden verstrichen. Germaine rührte sich nicht von der Stelle und hielt das Fläschchen so, daß die Strahlen des Mondes durch den gläsernen Flaschenhals drangen und anzuzeigen schienen, wieviel von der Flüssigkeit bereits getrunken worden war. Endlich stellte sie es sehr vorsichtig auf den Kamin zurück, als befürchte sie, die nächtliche Stille zu stören; dem Briefchen Pulver, das neben dem Fläschchen lag, schenkte sie dagegen nur einen achtlosen Blick.
    Dann trat sie nah ans Fenster und überzeugte sich, daß es geschlossen war. Sie stand genau vor dem Fenster, zwischen den braunen Plüschvorhängen, und ihr Schatten bewegte sich nicht, lag in dem langen Rechteck wie ein Körper in seinem Sarg, viel größer als Germaine, die ganz klein wirkte. Sie selbst schien in die Betrachtung des schwarzen Himmels versunken, an dem jeder Stern durch die Tüllgardinen zu sehen war. Der Mond warf einen glänzenden Schimmer auf ihre Schultern und ihr sorgfältig gekämmtes Haar. Einige Zeit verging, ohne daß sie sich regte, Adrienne konnte nur das feine Geräusch vernehmen, das sie zuweilen machte, wenn sie mit einer Bewegung, die nicht einmal an ihren Ellbogen zu erkennen war, die Handflächen aneinanderrieb.
    Man hätte meinen können, sie warte auf etwas. Plötzlich drehte sie sich um, als wäre soeben die Tür aufgegangen, und kam mit raschem Schritt in den Teil des Zimmers, wo Adrienne sich befand, wahrscheinlich, um irgendeinem Neuankömmling entgegenzueilen. In diesem Augenblick konnte Adrienne sie sehen. Sie war erschreckend blaß und ging mit geschlossenen Augen. Erde klebte in ihrem Haar und vorne auf ihrer Bluse, und bei jedem Schritt rieselte ein wenig davon auf den Teppich, aber immer wieder kam frische hinzu, als werfe eine unsichtbare und boshafte Hand sie ihr ins Gesicht. Sie wartete eine Weile ganz in der Nähe des jungen Mädchens. Ihre Hände waren gefaltet, rührten sich aber nicht.
    Zwei oder drei Minuten verrannen; die Tür öffnete sich nicht, doch auf einmal begriff Adrienne, daß jemand hereingekommen war; sie begriff es zuerst, weil die Lippen ihrer Schwester sich bewegten, sie sprach, ohne daß man hören konnte, was sie sagte. Dann spürte sie, daß jemand zwischen Germaine und ihrem Bett vorbeihuschte, und sie sah, wie ihre Schwester

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