Adrienne Mesurat
Einsamkeit auf sie zugekommen, und sie hatte ihn zurückgewiesen. Weil er Arbeitshosen trug und sie angesprochen hatte, ohne sie zu kennen? Ach! Was machte das schon. Sie dachte an seine tiefe, fast zärtliche Stimme wie an etwas ganz Fernes, das unwiederbringlich verloren war. Wenn dieser Mann zurückkäme, wollte sie bestimmt mit ihm sprechen, aber würde er zurückkommen? Hatte sie ihn nicht entmutigt?
Sie spazierte in die Richtung weiter, die er eingeschlagen hatte, aber am Ende der Gasse liefen zwei Straßen auseinander, und sie mußte sich entscheiden. Jetzt hörte sie nichts mehr, er pfiff nicht mehr. Sie bog aufs Geratewohl in eine der beiden Straßen ein und ging schneller. Ihr Herz pochte. Sie flüsterte: »Wenn er mir jemals wieder über den Weg läuft, wird er mit mir sprechen, und ich werde antworten.« Über einen Umweg, mit dem sie nicht gerechnet hatte, führte die Straße auf den Platz zurück. Ein Blick genügte, um zu sehen, daß hier niemand war. Offenbar hatte er die andere Straße genommen. Wenn sie liefe, konnte sie ihn vielleicht noch einholen, aber laufen! Dieser Einfall zwang sie, einen Augenblick nachzudenken, was sie tat. Beinahe spürte sie Germaines mißtrauischen Blick auf sich ruhen. Sie lehnte sich an die Gitterstäbe eines Metzgerladens und verschnaufte ein wenig. Jetzt tat sie genau das, was Vater und Schwester ihr früher zu Unrecht vorgeworfen hatten; sie lief einem Mann hinterher, und es kam ihr vor, als würde ihr Handeln auf geheimnisvolle Weise von der Häßlichkeit jener Szene angesteckt, die sie erdulden mußte, als der Greis und die Kranke sie ausgefragt, gequält hatten und sie in ihren gierigen Augen schmutzige Gedanken erraten hatte, die ihre Lippen nicht deutlich auszusprechen wagten. Dann fegte plötzlich etwas in ihr diese Skrupel hinweg. Sie sah sich in unsäglicher Einsamkeit, sogar ohne die alltäglichsten Freundschaften. Sie wollte nichts Böses tun, nur zu jemandem sprechen und den Klang einer Stimme hören, die ihr antwortete, nicht in ihr trostloses Hotel zurückkehren, ohne daß sie das Schweigen dieses Tages anders als mit »Danke« und »Guten Tag« gebrochen hätte. Allein der Gedanke an das Zimmer, in dem sie die Nacht verbringen mußte, erschien ihr eine Entschuldigung für das, was sie gerade tat.
Sie stellte sich keine Fragen mehr, sondern setzte ihren Weg fort, nahm jetzt eine Straße, auf der sie ihm wieder näherzukommen hoffte. Sie lief, das hinderte sie am Nachdenken. Ihre Schritte hallten in der Stille der Nacht mit einem Geräusch wider, das sie ängstigte, und sie bemühte sich, nur mit den Zehenspitzen aufzutreten, aber ihre Müdigkeit wurde von Sekunde zu Sekunde größer; nun erkannte sie auch ihren Weg nicht mehr, sie merkte, daß sie ziellos umherirrte und daß es vergeblich war, noch weiter zu laufen. Dennoch blieb sie nicht stehen, sie folgte der Straße bis ans Ende, bog dann in eine andere und fand sich bald auf einem mit Platanen bepflanzten Korso wieder; das dichte Laubwerk verströmte den Geruch und die kühle Luft des Regens, die es bewahrt hatte. Hier nun machten die aufgeweichte Erde, die Wasserpfützen ein Weiterlaufen unmöglich. Sie setzte sich auf eine Bank.
Ihr Herz pochte schmerzhaft, mit heftigen Schlägen, die sich auf ihren ganzen Körper übertrugen; sie konnte ihre Wucht bis tief in die Eingeweide und in den Schlagadern am Hals spüren. »Ich bin zu schnell gelaufen«, keuchte sie. Sie krümmte sich zusammen und stützte sich wie eine kraftlose alte Frau mit beiden Händen auf den Griff ihres Schirms, den sie vor sich auf die Erde gestemmt hatte. Stumpfsinnig starrte sie auf ihre Stiefel und den Saum ihres schwarzen Sergekleides, der mit Schlamm bespritzt war. Aus ihrem halb geöffneten Mund drang ein Keuchen, das sich wie eine Klage anhörte, ihre Zunge war rauh. Ein paar Minuten saß sie so da, unfähig aufzustehen, trotz der Schauer, die sie überliefen, und der kalten Luft, die auf ihrem Hals die herabrinnenden Schweißtropfen trocknete. Eine entsetzliche Müdigkeit lastete auf ihren Schultern; es war, als habe man ihr in jedes Schulterblatt eine Stockspitze gebohrt. Ihr Kopf war leer.
Endlich erhob sie sich und fand, ohne recht zu wissen wie, den Weg zu ihrem Hotel zurück.
Im Hotelbüro nahm sie ihr Fläschchen und das Pulver und schleppte sich zu ihrem Zimmer hinauf; hier stellte sie die Medikamente irgendwohin und warf sich auf ihr Bett, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, das Gaslicht anzuzünden. Nie
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