Adrienne Mesurat
zum Schrank ging. Lange verharrte sie dort und redete, erklärte der unsichtbaren Gestalt etwas, die offenbar neben ihr stand und die, in der Vorstellung des jungen Mädchens, niemand anders als der Vater sein konnte. In diesem Augenblick schlug Adrienne so heftig um sich, daß sie erwachte.
Sie setzte sich in ihrem Bett auf und blickte nach allen Seiten. Schreie stiegen in ihrer Kehle empor, doch aus ihrem Mund kam nur eine Art Röcheln. Sie wunderte sich, daß sie zwischen diesem Zimmer hier und dem ihres Traums keinen Unterschied ausmachen konnte, und mit den Augen suchte sie Germaine im Schrankspiegel und ihren Schatten in dem Rechteck, das der Mondschein auf den Teppich warf. Als sie vollkommen wach war und ihre Beklemmung ein wenig nachgelassen hatte, sprang sie aus dem Bett und zündete das Gaslicht an. Es war nicht einmal elf. Sie füllte ihre Waschschüssel mit Wasser und tauchte ihr Gesicht hinein, dann öffnete sie die Schranktür und hängte die Pelerine darüber, die sie noch um die Schultern trug, denn so war der Spiegel verdeckt, der ihr angst machte.
»Mir war zu heiß«, murmelte sie, »ich hätte mich nicht angezogen ins Bett legen dürfen. Was für ein grausiger Traum!«
Sie lachte. Es war schwül in diesem Zimmer, dessen Fenster seit fünf oder sechs Stunden nicht mehr geöffnet worden war. Wie vorher im Schlaf atmete sie mühsam. Auf einmal mußte sie husten. Rasch stand sie auf und schaute in den Spiegel über dem Kamin. Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen, und im Licht der Gaslampe hatten ihre Wangen eine graugrüne Farbe. Wieder hustete sie und sah sich im Spiegel husten. Dieser Anblick erfüllte sie mit panischem Schreck.
»Das ist der Anfang«, sagte sie halblaut, »der erste Anfall.«
Sie überlegte kurz, dann griff sie nach dem Hustensaft, der vor ihr stand, und trank gleich aus der Flasche. Es ekelte sie vor der dicken Flüssigkeit. Sie würgte einen Schluck hinunter, dann betrachtete sie angewidert das Etikett. Als sie das Fläsch-chen auf den Kamin stellte und wieder in den Spiegel blickte, sah sie, daß hinter ihr der Schrank weit offenstand. Daraufwar sie nicht gefaßt, und sie stieß einen Schrei aus, den sie in der Hand erstickte. Was würden die Leute sagen, wenn man sie hörte? Der Gedanke, daß sie vermutlich Zimmernachbarn hatte, tröstete sie für einen Augenblick. Doch gleich danach überfiel sie die Gewißheit, keine Nachbarn zu haben.
»Ich bin allein auf dem Stockwerk«, sagte sie sich.
Sie lauschte dem leisen Zischen, mit dem das Gas in den Milchglaskugeln der Hängelampe verbrannte, dann begann sie sich schnell auszuziehen. Als sie vor dem Spiegel mit erhobenen Armen ihre Bluse aufhakte, hatte sie das Gefühl, diese Bewegungen unter genau denselben Umständen schon einmal gemacht zu haben, und hielt inné, wie erstarrt durch diese Erinnerung, deren Ursprung sie nicht kannte und die ihr Angst einflößte. Das grellgelbe Gaslicht fiel auf ihr Gesicht und verlieh ihm einen theatralischen Ausdruck. Ihr Mund öffnete sich. So blieb sie ein paar Sekunden stehen, die Ellbogen über den Kopf erhoben. Sie fürchtete sich vor jeder Bewegung. Das Gas verbrannte mit einem unausgesetzen, emsigen Summen, das die Stille erfüllte und mit ihr auf unerklärliche Weise zu verschmelzen schien.
Mit einer unwirschen Geste löste sie ihr Haar auf und zwang sich, die Benommenheit abzuschütteln, von der ihr Gehirn erfaßt wurde. Bestimmt war Opium in dem Mittel, das sie getrunken hatte. Ihr schien, sie müßte in hellwachem Zustand den Alptraum von vorhin noch einmal durchleiden, und wenn sie sich andererseits vom Schlaf übermannen ließe, würde sie auch dort von derselben Schreckensvision heimgesucht. Bei diesem Gedanken begann sie zu zittern. Sie fragte sich, wie sie die Nacht überstehen sollte.
Allmählich fühlte sie, daß eine Angst von ihr Besitz ergriff, gegen die ihr Wille nichts vermochte. Alles in diesem Zimmer war ihr zuwider oder unheimlich: der Schrank, ob offen oder geschlossen, kam ihr grauenerregend vor wegen der Erinnerungen, die er in ihr weckte. Sie versuchte, den kleinen Sessel mit der runden Rückenlehne, den Germaines Rock gestreift hatte, nicht zu sehen, und konnte die Vorstellung nicht ertragen, sich wieder in dieses Bett zu legen, in dem sie vor Entsetzen fast ohnmächtig geworden war. Je weiter der Traum sich von ihr entfernte, desto wahrer schien er ihr; sie durchlebte alle Einzelheiten noch einmal, sie wußte, daß sie nur die Augen zu schließen
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