Adrienne Mesurat
Aufmerksamkeit auf sie gerichtet, sich die Mühe gemacht hatte, Briefpapier und Feder zu nehmen und an Adrienne Mesurat zu denken, rührte sie so sehr, daß sie nicht mehr wußte, ob sie glücklich oder unglücklich darüber war.
Mehrere Male wiederholte sie im Tonfall größter Überraschung: »Nein, so was!«, dann trocknete sie die Tränen, die über ihre Wangen liefen, und las den Brief. Er war kurz, ein wenig geschraubt, doch Adrienne entdeckte darin ein Zartgefühl, von dem sie hingerissen war. Der Sinn einiger Sätze entging ihr vollkommen, sie las sie immer wieder, ohne zu ahnen, was sie sagen wollten, ohne daß die Worte überhaupt einen Zusammenhang zu haben schienen; vor allem die banale Schlußfloskel beeindruckte sie sehr, sie konnte sich nicht satt sehen an diesem Ausdruck ergebenster Hochachtung, und schrieb jedem einzelnen Wort eine besondere und tiefe Bedeutung zu.
Als sie endlich in der Verfassung war, den Brief auf etwas verständigere Weise zu lesen, begann sie heftig zu weinen. Man hätte glauben können, dieser Brief stelle einen Akt unermeßlicher Barmherzigkeit dar. Und in einer Anwandlung von Dankbarkeit preßte sie das Papier an ihr Gesicht und drückte ihre Lippen auf jene Stelle, wo die Hand des Doktors geruht haben mußte. Plötzlich fiel ihr die Karte ein, die sie ihm aus Montfort-l’Amaury geschickt hatte. Bestimmt war sie inzwischen angekommen. Wie dachte er darüber? Sie schämte sich ein wenig bei der Vorstellung, er habe vielleicht nur gelacht, und war froh, nicht unterschrieben zu haben. Doch nachdem sie kurz nachgedacht hatte, spürte sie ein Bedauern, daß sie ihren Namen nicht unten auf die Karte gesetzt hatte. Wahrscheinlich hätte das eine Lösung herbeigeführt, wogegen diese anonyme Karte – machte sie die ganze Lage nicht noch verworrener und noch schwieriger?
»Nie im Leben hätte ich den Mut aufgebracht zu unterschreiben«, murmelte sie.
Sie las Maurecourts Brief noch einmal und steckte ihn dann in ihr Kleid.
Den ganzen Nachmittag lang spazierte sie über Wiesen und Felder. Es war mild, und sie hoffte, Bewegung und frische Luft würden sie von dieser Beklemmung heilen, die sie in ihrer Brust verspürte; kurze Hustenanfälle verschafften ihr manchmal Erleichterung, ängstigten sie aber mehr noch als Anzeichen jener verhaßten Krankheit, und sie gab sich alle Mühe, sie zu unterdrücken, weil sie glaubte, auf diese Weise wieder gesund zu werden. Vor allem jedoch wollte sie den inneren Frieden nutzen, den Maurecourts Brief ihr geschenkt hatte; das Wort Freude ist vielleicht zu stark, um zu beschreiben, was in ihr vorging; zu große Furcht, zu großes Mißtrauen vor der Zukunft und vor sich selbst war noch in ihrem Herzen, als daß Freude es hätte erfüllen können, aber sie fühlte sich ruhiger.
Als sie in die Villa des Charmes zurückkam, erfuhr sie, eine Dame sei dagewesen. Sie glaubte sogleich, es handle sich um Madame Legras, doch ein Blick auf die Villa Louise überzeugte sie, daß die Fensterläden noch immer geschlossen waren. Die Besucherin hatte zwar keinen Namen hinterlassen, wohl aber versprochen, im Laufe des Abends noch einmal vorbeizukommen.
Adrienne mußte nicht lange warten. Kaum hatte sie ihren Hut abgelegt, hörte sie auch schon, daß es an der Gartentür läutete. Sie griff schnell nach einem Buch und setzte sich mit klopfendem Herzen auf das Sofa. Sie hielt es für gut, in dieser Haltung überrascht zu werden. In einem so beengten Leben wie dem ihren ist ein Besuch, den man empfängt, kein ganz unerhebliches Ereignis; in solch außergewöhnlichen Fällen gehört es sich, ein strenges Zeremoniell zu entfalten, dessen Naivität einem Pariser lächerlich erscheinen mag, das in der Gedankenwelt eines Einwohners von La Tour-1'Evêque aber unverzichtbar ist. Sie nahm daher eine nicht gerade nachlässige, aber mit entspannter Lektüre in Einklang stehende Pose ein, das heißt, den Kopf leicht geneigt und einen Finger an der Wange, während die andere Hand das Buch hielt, dessen Zeilen vor ihren Augen hüpften und tanzten.
Einen Augenblick später ging die Tür auf und ließ eine in Schwarz gekleidete Dame herein, die mit schnellen und lautlosen Schritten in die Mitte des Salons trat. Adrienne erhob sich sogleich, legte ihr Buch beiseite und grüßte.
»Ich habe nicht die Ehre, Ihnen bekannt zu sein, Mademoiselle«, sagte die Besucherin, »aber ich wohne nicht weit von Ihnen entfernt.«
Sie unterbrach sich, als wolle sie Adrienne neugierig machen,
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