Adrienne Mesurat
und lächelte. Man hätte sie leicht auf vierzig Jahre geschätzt, und sie tat offenbar nichts, um ihr Alter zu verbergen. Ihr schmales Gesicht war von vielen Falten durchzogen, die um Mund und Lider eine Art erstarrtes Lächeln zeichneten. Nur die Augen waren jung geblieben, tiefschwarze Augen, die eine unermüdliche Neugier ruhelos umherwandern ließ. Während sie mit Adrienne sprach, hatte das junge Mädchen den Eindruck, sie zähle die Möbel im Raum und lege in Gedanken eine Liste an. Ihre Stimme war sanft, mit einer verhaltenen Herzlichkeit, die nicht unangenehm war.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Madame?« fragte Adrienne.
Sie setzten sich auf das Sofa, beide ganz vorn auf die Kante und beide mit sehr geradem Oberkörper.
»Damit Sie nicht länger raten müssen«, fuhr die Besucherin fort, »möchte ich Ihnen gleich sagen, daß ich Marie Maurecourt heiße und die Schwester Ihres Arztes bin. Bisher habe ich in Paris gelebt, aber vor kurzem bin ich zu meinem Bruder gezogen.«
Ihre Augen schweiften noch einmal durch den Salon, von der Tür zu den beiden Fenstern, und blieben wie zufällig an Adrienne hängen, die kein Wort sagte.
»Wundert es Sie, Mademoiselle, daß ich Sie besuchen komme?« fragte sie.
Adrienne schlang die Hände so fest ineinander, daß die Gelenke knackten; dann riß sie sich zusammen und sagte schnell:
»Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet.«
»Aber ist es nicht ganz selbstverständlich? Wir sind Nachbarinnen. Sie sind allein, und ich möchte wetten, daß Sie obendrein noch traurig sind. Das ist begreiflich, Mademoiselle.«
Ihr Blick wanderte in den Garten. Eine kurze Stille trat ein. Adrienne schlug die Augen nieder und wartete.
»Mein Bruder und ich haben gedacht«, sagte Marie Maurecourt nach einigen Sekunden, »wir könnten Ihnen vielleicht nützlich sein… Wenn ich sage, mein Bruder und ich, dann ist das nur so eine Redensart, die Sie irreführen kann. Wir haben uns nicht besprochen. Mein Bruder weiß nicht einmal, daß ich Ihnen diesen Besuch abstatte, aber gestern redeten wir von Ihnen, und er schien zu denken, daß es fast eine Pflicht sei… Wie soll ich sagen? Helfen Sie mir doch.«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Adrienne.
»Eine Pflicht, Sie nicht allein zu lassen, eine Pflicht, Ihnen im Rahmen des Möglichen Gesellschaft zu leisten. Und da ich ebenso denke, bin ich zu Ihnen gekommen. Sie müssen wissen, daß mein Bruder sehr beschäftigt ist, er hat wenig Zeit für sich selbst, überdies steht es mit seiner Gesundheit nicht zum besten; jeder Besuch, der nicht unbedingt gemacht werden muß, jede unnötige Strapaze ist ihm verboten.«
Sie hatte hastig gesprochen, ohne Adrienne anzublicken.
»Aber nun«, fuhr sie langsamer fort, »sollen Sie noch wissen, daß Sie nicht allein sind, daß Sie auf mich zählen können, wenn Sie sich einmal allzu traurig fühlen. Es ist ganz einfach, Sie brauchen mir nur eine Nachricht zu schicken, und ich komme.«
Dann stand sie rasch auf und streckte dem jungen Mädchen, das ebenfalls aufstand, die Hand entgegen.
»Ach, übrigens«, sagte Marie Maurecourt plötzlich, »haben Sie uns nicht neulich geschrieben?«
Adrienne hielt den Atem an; verstohlen betrachtete sie die Augen, die ihrem Blick auswichen, konnte aber nichts darin lesen.
»Nein«, sagte sie nach einer Weile.
Sie spürte, wie jäher Zorn gegen diese Frau in ihr aufstieg. Wollte auch sie ihr nachspionieren wie Germaine, wie Madame Legras? Der Gedanke, daß die Karte vielleicht in ihre Hände gefallen war, erschien ihr unerträglich. Sie sah die Worte, die sie geschrieben hatte, wieder vor sich: … Wenn Sie wüßten, wie unglücklich ich bin… und wurde rot.
»Nein«, wiederholte sie mit festerer Stimme, »das habe ich nicht.«
Zum ersten Mal blickte Marie Maurecourt Adrienne in die Augen. Sie hatte schwarze Augen mit einer kleinen gelben Flamme darin, die ihnen einen wilden, fast boshaften Ausdruck verlieh. Sie zuckte leicht die Achseln.
»Falsche Adresse«, murmelte sie.
Und lauter fügte sie hinzu:
»Sie nehmen mir diesen Besuch doch nicht übel? Mir lag so viel daran, Sie zu sehen.«
»Aber nein!« antwortete Adrienne.
Sie gingen zur Tür.
»Ich habe gehört, daß Sie verreist waren …«, sagte Marie Maurecourt und drehte sich nach Adrienne um, die ihr folgte.
Aber das junge Mädchen antwortete nicht. Sie standen nun beide an der Schwelle der Tür, die zum Garten führte. Adrienne hielt sich sehr gerade und sagte nichts. Auf einmal lehnte die
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