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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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Bäckchen wurden ihre Wangen fahl. Endlich zuckte sie mit verächtlicher Wut die Achseln.
    »Was für ein Geschwätz plappern Sie da nach?« sagte sie. »Verstehen Sie überhaupt den Sinn dessen, was Sie sagen?«
    Ein Lächeln verzog ihre Mundwinkel. Diese zur Schau getragene Ruhe verunsicherte das junge Mädchen, das auf eine Flut von Beschimpfungen gefaßt war; es antwortete nicht auf die gestellte Frage.
    »Also wirklich«, fuhr Madame Legras gelassen fort, »Sie sind nicht gerade von übermäßiger Höflichkeit oder Dankbarkeit geplagt. Sie kommen tagtäglich zu mir, nehmen Einladungen an, die natürlich niemals erwidert werden, und all das, um mir eines Morgens zu sagen, ich sei eine, wie haben Sie sich ausgedrückt?, eine liederliche Person, liederlich!« Sie wiederholte das Wort liederlich, als würde sie es ausspucken, und lachte. »Und warum, wenn ich bitten darf? Etwa, weil ich mir das Gesicht pudere? So etwas tut man in La Tour-1'Evêque vermutlich nicht. Oh! Voreilige Schlüsse machen einer Mesurat keine Angst!«
    Plötzlich schien sie jede Selbstbeherrschung zu verlieren, sprang von ihrem Stuhl hoch und pflanzte sich vor Adrienne auf, die sich zur Seite neigte und sie nicht ansah.
    »Ungeschicktes Dummerchen!« fauchte ihr Madame Legras beinahe ins Ohr. »Ich weiß genug über dich, um dich vors Schwurgericht zu bringen!«
    Als Adrienne diese Worte hörte, wandte sie ihr ein Gesicht zu, aus dem alles Blut gewichen war. Sie bemühte sich, den Mund zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Die Angst ließ sie zurückweichen, bis sie die Ecke der Anrichte berührte und schließlich die Wand unter ihrer Hand fühlte. Sie vermochte ihren Blick nicht von Madame Legras' Augen zu lösen, die ihren Triumph ganz offensichtlich genoß.
    »Na bitte«, sagte diese nach einer Weile, »jetzt kehrt Ihr Erinnerungsvermögen zurück. Sie vergessen kleine Gefälligkeiten, die man Ihnen erweist, sehr leicht, Mademoiselle. Wissen Sie, daß ich Ihnen aus einer äußerst mißlichen Lage herausgeholfen habe? Wissen Sie es, ja oder nein?«
    »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, stammelte Adrienne.
    »Sie wissen es ganz genau! Und wenn ich mich an diesen Tisch setzte, um der Staatsanwaltschaft alles zu schreiben, was ich über den Tod Ihres Vaters weiß, würden Sie vor mir auf den Knien kriechen, Mademoiselle Mesurat!«
    Während sie dies sagte, zeigte sie mit einem gebieterischem Finger auf den großen Tisch. Adrienne lehnte sich gegen die Anrichte. Worte, die sie lieber nicht gesagt hätte, kamen ihr über die Lippen.
    »Welche Schuld trifft mich?« fragte sie mit stockender Stimme.
    »Schweigen Sie!« sagte Madame Legras. »Ich bin kein Untersuchungsrichter, vor mir müssen Sie sich nicht rechtfertigen. Aber nehmen Sie sich in acht, wenn mir jemals zu Ohren kommt, daß Sie in La Tour-l’Evèque über mich herziehen, packe ich aus. Verstanden?«
    Sie nickte kurz und ging.
    Adrienne hörte, wie das Gartentor zugeschlagen wurde, und zwei Sekunden später auch das der Villa Louise. Sie lauschte diesen Geräuschen ebenso wie dem Gekläff des gelben Dackels, der sein Frauchen begrüßte. Dann kehrte wieder Stille ein, die drückende und tiefe Stille, die sie so gut kannte. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und blieb reglos sitzen. Kalter Schweiß rann ihr langsam von den Haarwurzeln über Stirn und Schläfen. Etwas in ihr zerbrach, sie wußte, daß sie nicht mehr die Kraft hatte zu kämpfen, und zum ersten Mal seit Wochen spürte sie das ganze Grauen dieses stillen Hauses. Trotz ihres inneren Aufruhrs war sie nicht fähig, auch nur die kleinste Bewegung zu machen. Sie wollte aufstehen, umhergehen, aber eine schreckliche Müdigkeit lastete auf ihr. Vergeblich versuchte sie, wieder auf die Beine zu kommen.
    Sie erinnerte sich an jenen Tag, als ihr, das Gesicht an die Gitterstäbe des Gartentors gepreßt, der Gedanke gekommen war wegzulaufen, als sie die Klinke niedergedrückt hatte und feststellen mußte, daß ihr vorausblickender Vater das Tor abgeschlossen hatte. Heute hatte sie das Gefühl, gewissermaßen in derselben Lage zu sein, und meinte, es würden sich ihr, wenn sie dem Haus entfliehen wollte, noch unüberwindlichere Hindernisse in den Weg stellen.
    Nun verstand sie auch den Sinn ihrer Reise. Es war, als hätten die kleinen Städte, die sie besucht hatte, sie abgewiesen. Sie hatte geglaubt, in der Villa des Charmes nicht mehr leben zu können; im Gegenteil, nur noch hier konnte sie leben. Zunächst war es ihr aus

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