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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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Erstarrung ihre Gliedmaßen, und auch das müde Gehirn gehorchte ihr nicht mehr; jedem Gedanken, jedem Traum war sie hilflos ausgeliefert. Es war, als stünde ihr Wille unter einem Bann. Sie schaffte es nicht mehr, die Augen von dem Gegenstand abzuwenden, auf den sie starrte.
    Nach einer Weile riß sie sich mühsam zusammen und richtete sich auf. Diese Benommenheit, die von ihr Besitz ergriff, flößte ihr Furcht ein. Sie stand auf und begann von neuem, im Salon auf und ab zu gehen.
    »Mir ist alles gleich«, murmelte sie. »Jetzt ist mir alles gleich.«
    Nah am Fenster blieb sie stehen und blickte zu dem weißen Haus, von dem sie nur eine Ecke sehen konnte. Ein paar Sekunden war sie ganz in diese Betrachtung vertieft, dann setzte sie ihr Hin- und Hergehen fort, von der Eßzimmer- zur Vorzimmertür. Sie hatte noch nichts gegessen und fühlte sich leer im Kopf. Plötzlich wurde sie von einer Schwäche ergriffen, und ihre Beine gaben nach. Sie sank vor dem Sofa auf die Knie, das nun anstelle von Germaines Kanapee hier stand, und während ein Weinkrampf ihren Oberkörper schüttelte, verbarg sie ihr Gesicht in den Armen und stammelte gequält:
    »Alles, ja, alles.«
    Zwei Stunden später saß sie in ihrem Zimmer. Sie hatte ihren Koffer ausgepackt, ihre Sachen in den Schrank geräumt, und ihr Leben ging weiter, dieses Leben voller Einsamkeit, das sie sich geschaffen hatte und an dem sie offenbar nichts ändern konnte. Was hatte diese Reise ihr gebracht? War sie nicht gezwungen gewesen zurückzukommen? Wenn sie doch wenigstens in ruhigerer Verfassung, mit festerem Herzen zurückgekommen wäre! Aber nein, sie hatte sich nur gemartert, war nur in noch tieferer Schwermut versunken.
    »Ich kann nicht mehr so leben«, wiederholte sie mehrmals und schlug dabei mit der geballten Faust auf ihr Knie; doch anstatt daß diese Worte sie zum Handeln trieben, erschienen sie ihr nur als Feststellung einer unwiderruflichen Tatsache. Überdruß und Abscheu vor den Gedanken, die sie unaufhörlich bedrängten, ließen sie dennoch nach einer Ablenkung suchen oder zumindest nach etwas, was ihre Hände beschäftigen würde.
    Sie holte eine alte Hutschachtel aus dem Schrank, in der sie alle Briefe aufbewahrte, die sie jemals bekommen hatte. Die meisten waren zu Bündeln von zehn oder zwanzig verschnürt und zeugten von der Sorgfalt, mit der Adrienne sie aufgehoben hatte; unter dem Band, das sie zusammenhielt, steckte ein weißer Zettel mit einer Jahreszahl, deren Ziffern nach väterlicher Anweisung in Schönschrift gemalt waren. Insgesamt waren es vier oder fünf Bündel: Briefe von Schulfreundinnen, die ihr während der Ferien geschrieben hatten; seltener Briefe von Verwandten, denn die Mesurais hatten nur wenige und legten keinen Wert darauf, regelmäßige Beziehungen mit ihnen zu unterhalten, und so konnte es in diesem Teil von Adriennes Briefwechsel mit ihren Cousins in Paris und Rennes auch nur um kleine Gefälligkeiten gehen, um die man sie gebeten hatte. Schließlich lagen noch etwa zehn Briefe, die achtlos hineingeworfen worden waren, ungeordnet in der Schachtel. Diese begann Adrienne durchzusehen. Einer kam aus Paris, drei aus La Tour-l’Evèque selbst, ein anderer aus Rennes. Es waren Beileidsschreiben zu Monsieur Mesurats Tod. Bisher hatte Adrienne sich nicht entschließen können, sie zu lesen, aber die Gewohnheit, alle ihre Briefe aufzubewahren, war zu stark, als daß sie nicht auch diese zu den anderen gelegt hätte, selbst wenn sie sie nicht zur Kenntnis nahm. Die Briefe ihrer Verwandten machte sie nicht auf, aber die aus La Tour-l’Evèque weckten ihre Neugier, weil sie die Handschriften nicht kannte. Mit einer Haarnadel öffnete sie einen der Umschläge und zog ein leicht parfümiertes Kärtchen mit Goldschnitt hervor: ein paar Zeilen von Madame Legras. Sie runzelte die Stirn, las schreckliches Unglück … ergebene Freundin … und zerriß nach kurzem Zögern das Briefchen, vor dessen Anblick und Geruch sie schauderte.
    Der zweite Brief stammte vom Bahnhofsvorsteher, der Monsieur Mesurat gut gekannt hatte und sich mit vollem Recht als sein Freund betrachtete.
    Der dritte, in kleiner, eiliger Schrift abgefaßt und schwer zu lesen, war unterzeichnet mit: Denis Maurecourt. Adrienne stieß einen kleinen Schrei aus, als sie den Namen entzifferte, und errötete tief. Ihre Hände zitterten, und ein paar Sekunden lang vermochte sie die Worte, die sie vor Augen hatte, nicht zu begreifen. Der bloße Gedanke, daß dieser Mann seine

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