Adrienne Mesurat
brauchte, und sogleich käme das Gesicht ihrer Schwester dem ihren wieder ganz nahe, sogleich würde sie die Gegenwart jener anderen Person spüren, auf die Germaine gewartet hatte.
Ihr Herz pochte wie rasend. Plötzlich drehte sie sich um, den Rücken zur Wand gekehrt, so daß niemand sich hinter sie stellen konnte, und blickte ins Zimmer, aber sie begriff, daß diese Bewegung ein Fehler gewesen war, denn das Grauen wurde dadurch nicht etwa besänftigt, sondern erst auf die Spitze getrieben. Sie hätte sich nicht eingestehen dürfen, daß sie Angst hatte. Eine Minute lang stand sie da, die Handflächen an die Wand gepreßt, lauernd auf das kleinste Geräusch und fast außer sich; ihre eigenen Atemzüge erschreckten sie zu Tode, sie glaubte, den Atem eines anderen darin zu erkennen, einen schweren, heiseren Atem.
Eine Turmuhr schlug halb zwölf. Noch mindestens fünf Stunden bis zur Dämmerung. Warum war sie nicht draußen geblieben! Warum hatte sie die Nacht nicht auf jener Bank unter den Linden verbracht! Ihr kam der Gedanke, sich wieder anzukleiden, ihren Koffer zu packen und zu gehen. Im Empfangsbüro könnte sie sagen, das Bett sei schmutzig, doch ihr fehlte der Mut. Ein unwiderstehliches Bedürfnis zu schlafen ließ sie immer wieder kurz einnicken, und jedesmal, wenn ihr der Kopf auf die Brust fiel, war ihr, als folge ihr ganzer Körper dieser Bewegung und falle, aber gleich fing sie sich wieder und schüttelte verstört ihr Haar.
Endlich beschloß sie, einen Morgenrock anzuziehen und das Fenster einen Spalt zu öffnen. Die kühle Luft schlug ihr ins Gesicht und machte sie wach. Sie nahm einen Fahrplan aus ihrem Koffer und blätterte darin, ohne zu finden, was sie wollte: Bilder wirbelten durch ihren Kopf, es gelang ihr nicht einmal mehr, sich zu erinnern, was sie in dem Büchlein suchte, dessen hauchdünne Seiten ihren zitternden Fingern entglitten. Sie sah den Doktor wieder vor sich, als er sie aus dem Wagen einen Augenblick lang angesehen hatte; doch sogleich wurde diese Erinnerung wieder aus ihrem Gedächtnis verjagt, als verbiete ihr die Angst, von der sie besessen war, bei dem einzigen Gedanken zu verweilen, der ihr ein wenig Trost hätte schenken können.
»Genau darum geht es!« sagte sie sich.
Sie spürte, daß ihre Knie zitterten, versuchte, sich das Gesicht des jungen Arbeiters, der ihr nachgegangen war, ins Bewußtsein zurückzurufen: seine Lippen glänzten, sie sah wieder, wie sie sich bewegten, als er sprach und die ein wenig unregelmäßigen Zähne sichtbar wurden. Aber irgend etwas stieg tobend in ihr hoch, stärker als diese wirren Erinnerungen, die sie heraufbeschwören wollte. In ihren Schläfen klopfte das Blut mit wilden Schlägen, die in ihrem Kopf widerhallten. Sie glaubte, gleich werde sie umfallen, und klammerte sich an das Bett. Sie war überzeugt, daß jemand hinter ihr stand, sie hatte ein Atmen gehört, lauter als ihr eigenes, über ihre Schulter hinweg wie vorhin. Der Fahrplan entglitt ihren Fingern; sie ließ sich auf den Teppich sinken und verbarg den Kopf in den Händen.
Dritter Teil
I
Als sie nach Hause kam, war Désirée noch nicht da. Es war früher Morgen. Sie trat in den Salon und öffnete die Fenster. Beim Anblick von Madame Legras' Linden seufzte sie auf. War es einen Monat oder einen Tag her, daß sie sie zuletzt vor Augen gehabt hatte? Wie wenig sich alles veränderte!
Und auf dem runden Tischchen lag auch eine Karte von Madame Legras. Adrienne las sie sofort.
Meine Liebste, schrieb ihre einstige Freundin, Sie müssen den vierzehnten mit mir feiern. Ich komme morsen, den zwölften.
Monsieur Legras ’ Geschäfte gehen etwas besser, als ich dachte. Herzliche Grüße. Léontine L…
Sie zerriß die Karte und warf die Papierschnitzel hinter die Kaminklappe. Auf dem Tischchen lag noch ein Brief; sie erkannte die Schrift und griff erst danach, als sie ihre Handschuhe wieder angezogen hatte.
Mademoiselle …, schrieb die Oberin des Hospizes, in dem ihre Schwester in Pflege war. Adrienne hielt inné, denn sie mußte an ihren Traum denken. Ihre Hände zitterten vor Aufregung. Sie las weiter: Glücklicherweise habe ich Ihnen keine schlimmen Nachrichten von Ihrer Schwester zu überbringen, aber das ist auch alles, was ich an Erfreulichem über ihre Gesundheit sagen kann. Wir hoffen immer noch, daß die Luft hier sie ein wenig kräftigen wird und ihr Appetit wiederkommt. Es ist schon viel wert, daß ihr Befinden sich nicht verschlechtert hat.
Sie bittet
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