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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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mich, Ihnen zu sagen, sie habe sich, was die Fräse des Geldes betrifft, anders besonnen und Sie mögen ihr den Betrag, um den sie gebeten hatte, nicht überweisen. Sie hat an Ihren Notar geschrieben, der es übernehmen wird, ihr das nötige Geld zugehen zu lassen. Sie brauchen sich also nicht weiter darum zu kümmern. Ferner läßt sie noch mitteilen, und wie mir scheint, mit Fug und Recht, wenn Sie mir gestatten, hier meine Meinung zu äußern, daß die Summe, die Ihnen zugesprochen wurde, ein wenig höher ist, als Ihre Bedürfnisse es erfordern dürften, und daß sie in diesem Sinne an Maître Biraud geschrieben hat. Wundern Sie sich deshalb nicht, wenn Sie in diesem Monat einhundert Franc weniger erhalten als im vergangenen.
    Adrienne legte den Brief auf das Tischchen, ohne ihn zu Ende zu lesen, und kniff die Lippen zusammen. Sie wirkte erschöpft; schwarze Ringe lagen unter ihren Augen und verstärkten deren Glanz; das übrige Gesicht drückte jedoch tiefe Bitterkeit aus. Sie ließ den Kopf hängen und verharrte einige Sekunden reglos, während sie auf einen Sonnenstrahl starrte, der sich zu ihren Füßen über den Teppich zog. Nach einer Weile atmete sie tief und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.
    Es war etwas kühl, aber die Sonne verhieß einen schönen Tag. In einer der niedrigen Hainbuchen des Gartens flötete eine Amsel; von Zeit zu Zeit verstummte sie, als wolle sie sich eine neue Melodie ausdenken, doch wenn sie von neuem anhob, waren es immer dieselben fröhlichen Töne, deren letzten sie mit einer Art Wohlgefallen lange aushielt. Adrienne blieb einen Augenblick am Fenster stehen, seltsam angezogen von diesem Gesang, der ihr so viele Dinge ins Gedächtnis rief. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie es sich angewöhnt, beständig an die vergangenen Jahre zurückzudenken, insbesondere an die ihrer Kindheit. Dann versank sie in tiefe Träumereien, überließ ihre Gedanken dem Fluß der Erinnerungen. Fast jeden Sommer kamen Amseln in den Garten, in den frühesten Morgenstunden, wenn die Wege noch verlassen dalagen. Dann spazierten sie umher, als wären sie hier zu Hause, rund und glatt, wie wohlgenährte geistliche Herren. Zumindest gebrauchte Monsieur Mesurat früher diesen Vergleich, um die Vögel zu beschreiben.
    Ihr fiel auf, daß die Geranien prächtig gediehen, der Regen schien ihnen Kraft gegeben zu haben. Das Gras mußte geschnitten werden. Sie kehrte in die Mitte des Zimmers zurück, trat an das Tischchen und las die letzte Seite des Briefes, indem sie das Blatt mit der Spitze des Zeigefingers niederhielt. Die Nonne fügte dem bereits Gesagten nichts Interessantes mehr hinzu und schloß mit frommen Wünschen, die Adrienne nicht einmal überfliegen mochte. Als sie zu Ende gelesen hatte, zerriß sie den Brief und warf ihn Madame Legras' Karte hinterher. Dann streifte sie die Handschuhe ab und setzte sich an den Sekretär; nachdem sie ein paar Minuten nachgedacht hatte, schrieb sie einen Brief:
    Liebe Germaine! Ich schlage vor, daß wir uns über Vermittlung von Maître Biraud auf einen festen Betrag einigen, den ich monatlich erhalte. Das erspart uns vielleicht einigen Arger bis zu dem Tag, an dem ich volljährig bin und endlich über meinen Besitz verfügen kann, wie es mir beliebt. Ich hoffe, die Luft von Saint-Blaise bekommt Dir gut und Du erholst Dich rasch.
    Deine Schwester Adrienne.
    Sie las den Brief noch einmal durch, und da sie keinen Löscher zur Hand hatte, schwenkte sie ihn einen Augenblick, bis die Tinte trocken war; doch als sie ihn falten und in den Umschlag stecken wollte, besann sie sich auf einmal anders und zerriß ihn langsam in vier Stücke. Sie legte die Hände auf dem Tisch übereinander, und als sie die Augen hob, blieb ihr Blick an den Linden der Villa Louise hängen, die sie von ihrem Platz aus sehen konnte. Auf ihrer Stirn bildete sich zwischen den Brauen eine kleine Falte, als würde sie das Bild, das sie vor sich hatte, aufmerksam betrachten.
    Das Auf und Ab der Erinnerung in ihr erfüllte sie mit Angst. Ganz plötzlich, und ohne zu begreifen warum, fielen ihr Worte wieder ein, die sie früher einmal gehört hatte, belanglose Gespräche zwischen Germaine und ihrem Vater. Sie mochte sich noch so sehr bemühen, ihre Gedanken von diesen beiden Stimmen abzulenken, ihr fehlte die Kraft. Bis jetzt hatte eine körperliche Energie ihr Halt gegeben, doch seit einigen Minuten machte die schlaflose Nacht sich bemerkbar. Sie war nicht schläfrig; ihr kam vor, als lahme eine

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