Adrienne Mesurat
war.
Sie setzte sich in den großen, niedrigen Lehnsessel, in dem ihr Vater früher sein Mittagsschläfchen gehalten hatte, und verharrte reglos, den Rücken zum Fenster gekehrt. Weder aus dem Haus noch von der Straße war das kleinste Geräusch zu hören. Es war heiß. Im Garten verstummten um die Mittagszeit auch die Vögel.
III
Gleich nach dem Mittagessen entschloß sie sich, ihren Brief eigenhändig zum weißen Haus zu tragen; natürlich würde sie es nie wagen zu läuten, aus Furcht, der Doktor selbst könne ihr zufällig öffnen; sie wollte sich damit begnügen, den Umschlag in den Briefkasten an der Tür zu werfen. Es war ja schon viel, dachte sie, auch nur dies zustande zu bringen. Lief sie nicht Gefahr, plötzlich Maurecourt gegenüberzustehen, der in diesem Augenblick vielleicht gerade das Haus verließ?
Diese mögliche Begegnung, die sie für gewöhnlich mit Schrecken und Wonne zugleich erfüllte, schien ihr heute eine unerträgliche Prüfung zu sein. Sie träumte davon, ihn zu sehen, wenn sie sich ruhiger fühlen und nicht mehr so müde aussehen würde. Welchen Eindruck konnte sie jetzt auf ihn machen, blaß und nervös wie sie war? Wenn sie sich etwas genauer befragt hätte, vielleicht hätte sie dann zugeben müssen, daß sie aus dem Zustand der Erregtheit, in dem sie sich befand, Nutzen ziehen wollte, daß sie in naiver Weise auf die Wirkung eines verstörten Gesichts und gestammelter Worte setzte, um bei diesem Mann Mitleid zu erwecken, und daß sie ihren Brief mit Absicht nicht Désirée anvertraut hatte. Sie war am Ende. Sie mußte handeln, und gerade im Übermaß ihrer Verzweiflung fand sie die Kraft dazu.
Sie setzte ihren schwarzen Strohhut auf und verließ das Haus. Als sie die Straße überquerte, fragte sie sich, was sie sagen sollte, falls sie mit Maurecourt zusammenträfe, konnte sich jedoch keine Antwort geben. Gleich darauf stand sie vor der Holztür, die sie so oft beobachtet hatte und deren grüner Anstrich durch die Hitze an manchen Stellen Blasen warf und abblätterte. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Einen Augenblick stand sie unbeweglich da, den Brief hatte sie nur halb in den Postkastenschlitz geschoben, denn sie konnte sich nicht entschließen, ihre Finger von ihm zu lösen und ihn fallenzulassen. Im Inneren des weißen Hauses rückte jemand Stühle umher, wahrscheinlich ein Dienstmädchen, das nach dem Mittagsmahl das Eßzimmer wieder in Ordnung brachte. Wo war Maurecourt jetzt? Vielleicht ruhte er sich im Garten aus. Sie stellte ihn sich auf einem Liegestuhl vor, ausgestreckt unter einem Baum, unter einer Buche wie jener, die sie von Germaines Zimmer aus sah. Plötzlich überkam sie Bedauern, daß sie nicht ihm geschrieben hatte, anstatt den Brief an seine Schwester zu richten, und in einer Anwandlung von Zärtlichkeit seufzte sie tief:
»Er ist da«, dachte sie. »Was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich in seiner Nähe bin?«
Sie fühlte sich auf einmal entmutigt und ließ den Brief los; der Postkasten klappte mit einem dumpfen Schlag zu. Im selben Augenblick glaubte sie, Schritte auf dem Weg zu hören, der an der Gartenmauer entlangführte, und schlich auf Zehenspitzen davon. Die Aufregung schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte sich nicht getäuscht, auf der anderen Seite der Mauer ging jemand, blieb aber plötzlich stehen. Auch sie blieb stehen und lehnte sich an den steinernen Sockel. Ein paar Sekunden verstrichen. Lautlos ging sie ein Stückchen weiter und erreichte die Straßenecke. Hier wartete sie. Auch im Garten wartete jemand, das war sicher. Bald darauf drang das Geräusch der Schritte an ihr Ohr, die ihren Weg fortsetzten, aber ein wenig schneller; vor der Tür blieben sie stehen. Sie hörte das Klicken des Briefkastens, den eine Hand vorsichtig öffnete und wieder schloß.
»Ich bin beobachtet worden«, sagte sie sich erschrocken, »jemand hat mich gesehen.«
Und sie wich hinter die Hausecke zurück, wagte aber nicht wegzulaufen. Eine Minute lang herrschte tiefe Stille, dann drehte dieselbe Hand, die den Briefkasten so behutsam aufgemacht hatte, den Knauf herum und öffnete die Tür. Jemand trat auf die Straße. Adrienne hielt den Atem an. Vier oder fünf Schritte höchstens trennten sie von der Person, die vor der Haustür stand und wahrscheinlich die Straße hinauf- und hinunterblickte, um zu sehen, wer den Brief gebracht hatte; diese Person brauchte nur bis zur Mauerecke vorzugehen, um sie zu entdecken. Aber gleich darauf hörte Adrienne, wie
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